Die Uhr tickt…
Zwei Monate sind seit dem Brexit-Votum vergangen. Noch weiß keiner, wie es weitergeht. Der deutsch-britische Europapolitiker David McAllister über Wünsche und die harte Realität
Herr McAllister, Sie haben unlängst gesagt, Ihre politische Zukunft liege in Europa. Wie fühlt sich das für Sie an, dass eine Ihrer Heimaten sein Ausscheiden aus der EU plant? David McAllister: Das Votum einer knappen Mehrheit habe ich sehr bedauert und halte es für einen großen Fehler. Gleichwohl gilt es, diese Entscheidung zu respektieren. Die EU zu verlassen, ist sicher ein historischer Einschnitt mit Konsequenzen, die noch nicht vollständig überblickt werden können. McAllister: Die britische Regierung braucht offenkundig noch Zeit, um personell, organisatorisch und konzeptionell so aufgestellt zu sein, dass sie mit den Verhandlungen beginnen kann. McAllister: Ich bin der Auffassung, dass, wenn das Vereinigte Königreich die EU verlassen möchte, dies rechtzeitig vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 geklärt sein sollte. Sobald der Antrag auf Austritt vorliegt, beginnt eine zweijährige Frist für die Verhandlungen. Das offizielle Austrittsgesuch sollte also spätestens Anfang 2017 gestellt werden. McAllister: Es ist auch im britischen Interesse, die Phase der Unsicherheit nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Gerade die britische Wirtschaft braucht Klarheit, wann der Austritt stattfindet und ebenso wie das künftige Verhältnis zur EU aussehen soll. Die Entscheidung des Referendums war schon ein schwerer Schlag. So hat das britische Pfund gegenüber dem Euro seither elf Prozent an Wert verloren. Viele Unternehmen haben angekündigt, dass sie Investitionen davon abhängig machen, wie das Verhältnis zum europäischen Binnenmarkt konkret aussehen soll. McAllister: Das ist die eigentliche Herausforderung. Die Brexit-Kampagne hat vor dem Referendum versprochen, dass man die EU verlassen kann, aber gleichzeitig vollen Zugang zum Binnenmarkt behält, die Arbeitnehmerfreizügigkeit erheblich einschränken kann und die finanziellen Beiträge nicht mehr zu bezahlen braucht. Das ist die Qua- dratur des Kreises. Man kann nicht mit der EU schrankenlos Handel treiben, ohne sich gleichzeitig an den Kosten zu beteiligen und alle vier Freizügigkeiten des Binnenmarkts zu akzeptieren. Die Phase der Extrawürste und Ausnahmen für London ist nun beendet.
McAllister: Es muss einen spürbaren Unterschied machen, dass ein Land aus der Europäischen Union austreten möchte. Mein Wunsch ist, dass wir eine gute Handelspartnerschaft hinbekommen – und zwar nach unseren bewährten Regeln. McAllister: Norwegen hat sich von allen Nicht-EU-Mitgliedern am engsten an die Europäische Union gebunden, akzeptiert unsere Binnenmarkt-Regeln zu 100 Prozent. Dieses Modell wäre am leichtesten umzusetzen. Es würde aber beinhalten, dass das Vereinigte Königreich die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren muss, die es ja gerade einschränken will.
McAllister: Ich wünschte mir, dass die Briten zu der Erkenntnis kommen, dass es besser ist, in der EU zu bleiben. Aber wir müssen realistisch sein: Es sieht sehr danach aus, dass das Vereinigte Königreich die EU tatsächlich verlassen wird. Die Europäische Union ist stark genug, um den Austritt zu verkraften. McAllister: 62 Prozent der Schotten haben für den EU-Verbleib gestimmt. Die schottische Regierung lotet alle Möglichkeiten aus, wie Schottland an die EU gebunden werden kann. Ein neues Unabhängigkeitsreferendum ist die Ultima Ratio. Entscheidend ist, wie das Votum der Schotten berücksichtigt werden kann. Das Königreich besteht eben aus vier selbstbewussten Nationen. England und Wales haben für den Austritt gestimmt, Nordirland und Schottland für den Verbleib.
David McAllister hat die britische und die deutsche Staatsbürgerschaft. Der CDU-Politiker ist seit 2015 Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament. Bis 2013 war der heute 45-Jährige Ministerpräsident Niedersachsens.