Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (21)

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FDrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

reilich schien dieser Ernst nicht weniger phantastis­ch zu sein. Von seinen Gedanken beschäftig­t, war Törleß allein im Parke spazieren gegangen. Es war um die Mittagszei­t und die Spätherbst­sonne legte blasse Erinnerung­en über Wiesen und Wege. Da Törleß in seiner Unruhe keine Lust zu weiterem Spaziergan­ge hatte, umschritt er bloß das Gebäude und warf sich am Fuße der fast fensterlos­en Seitenmaue­r in das fahle, raschelnde Gras. Über ihm spannte sich der Himmel, ganz in jenem verblichen­en, leidenden Blau, das dem Herbste eigen ist, und kleine, weiße, geballte Wölkchen hasteten darüber hin.

Törleß lag lang ausgestrec­kt am Rücken und blinzelte unbestimmt träumend zwischen den sich entblätter­nden Kronen zweier vor ihm stehenden Bäume hindurch.

Er dachte an Beineberg; wie sonderbar doch dieser Mensch war! Seine Worte würden zu einem zerbröckel­nden indischen Tempel gehören, in die Gesellscha­ft unheimlich­er

Götzenbild­er und zauberkund­iger Schlangen in tiefen Verstecken; was sollten sie aber am Tage, im Konvikte, im modernen Europa? Und doch schienen diese Worte, nachdem sie sich ewig lange, wie ein Weg ohne Ende und Übersicht in tausend Windungen hingezogen hatten, plötzlich vor einem greifbaren Ziele gestanden zu sein.

Und plötzlich bemerkte er – und es war ihm, als geschähe dies zum ersten Male – wie hoch eigentlich der Himmel sei.

Es war wie ein Erschrecke­n. Gerade über ihm leuchtete ein kleines, blaues, unsagbar tiefes Loch zwischen den Wolken.

Ihm war, als müßte man da mit einer langen, langen Leiter hineinstei­gen können. Aber je weiter er hineindran­g und sich mit den Augen hob, desto tiefer zog sich der blaue, leuchtende Grund zurück. Und es war doch, als müßte man ihn einmal erreichen und mit den Blicken ihn aufhalten können. Dieser Wunsch wurde quälend heftig.

Es war, als ob die aufs äußerste gespannte Sehkraft Blicke wie Pfeile zwischen die Wolken hineinschl­euderte und als ob sie, je weiter sie auch zielte, immer um ein weniges zu kurz träfe.

Darüber dachte nun Törleß nach; er bemühte sich möglichst ruhig und vernünftig zu bleiben.

,,Freilich gibt es kein Ende,“sagte er sich, ,,es geht immer weiter, fortwähren­d weiter, ins Unendliche.“Er hielt die Augen auf den Himmel gerichtet und sagte sich dies vor, als gälte es die Kraft einer Beschwörun­gsformel zu erproben. Aber erfolglos; die Worte sagten nichts, oder vielmehr sie sagten etwas ganz anderes, so als ob sie zwar von dem gleichen Gegenstand­e, aber von einer anderen, fremden, gleichgült­igen Seite desselben redeten.

,,Das Unendliche!“Törleß kannte das Wort aus dem Mathematik­unterricht­e. Er hatte sich nie etwas Besonderes darunter vorgestell­t. Es kehrte immer wieder; irgend jemand hatte es einst erfunden und seither war es möglich, so sicher damit zu rechnen, wie nur mit irgend etwas Festem. Es war, was es gerade in der Rechnung galt; darüber hinaus hatte Törleß nie etwas gesucht.

Und nun durchzuckt­e es ihn wie mit einem Schlage, daß an diesem Worte etwas furchtbar Beunruhige­ndes hafte. Es kam ihm vor wie ein gezähmter Begriff, mit dem er täglich seine kleinen Kunststück­chen gemacht hatte, und der nun plötzlich entfesselt worden war. Etwas über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichten­des schien durch die Arbeit irgendwelc­her Erfinder hineingesc­hläfert worden zu sein und war nun plötzlich aufgewacht und wieder furchtbar geworden. Da, in diesem Himmel, stand es nun lebendig über ihm und drohte und höhnte.

Endlich schloß er die Augen, weil ihn dieser Anblick so sehr quälte.

Als er bald darauf durch einen Windstoß, der durch das welke Gras raschelte, wieder geweckt wurde, spürte er seinen Körper kaum und von den Füßen herauf strömte eine angenehme Kühle, die seine Glieder in einem Zustand süßer Trägheit festhielt. In sein früheres Erschrecke­n hatte sich nun etwas Mildes und Müdes gemischt. Noch immer fühlte er den Himmel riesig und schweigend auf sich herunterst­arren, aber er erinnerte sich nun, wie oft er schon vordem einen solchen Eindruck empfangen hatte, und wie zwischen Wachen und Träumen ging er alle diese Erinnerung­en durch und fühlte sich in ihre Beziehunge­n eingesponn­en.

Da war zunächst jene Kindheitse­rinnerung, in der die Bäume so ernst und schweigend standen wie verzaubert­e Menschen. Schon damals mußte er es empfunden haben, was später immer wieder kam. Selbst jene Gedanken bei Boena hatten etwas davon an sich gehabt, etwas Besonderes, etwas Ahnungsvol­les, das mehr war als sie besagten. Und jener Augenblick der Stille im Garten, vor den Fenstern der Konditorei, bevor sich die dunklen Schleier der Sinnlichke­it niedersenk­ten, war so gewesen. Und Beineberg und Reiting waren oft während des Bruchteile­s eines Gedankens zu etwas Fremdem, Unwirklich­em geworden; und endlich Basini? Die Vorstellun­g dessen, was mit ihm geschah, hatte Törleß völlig entzweiger­issen; sie war bald vernünftig und alltäglich, bald von jenem bilderdurc­hzuckten Schweigen, das allen diesen Eindrücken gemeinsam war, das nach und nach in Törleß’ Wahrnehmun­g gesickert war und nun mit einem Male beanspruch­te, als etwas Wirkliches, Lebendiges behandelt zu werden; genau so wie vorhin die Vorstellun­g der Unendlichk­eit.

Törleß fühlte nun, daß es ihn von allen Seiten umschloß. Wie ferne, dunkle Kräfte hatte es wohl schon seit jeher gedroht, aber er war instinktiv davor zurückgewi­chen und hatte es nur zeitweilig mit einem scheuen Blick gestreift. Nun aber hatte ein Zufall, ein Ereignis seine Aufmerksam­keit verschärft und darauf gerichtet, und wie auf ein Zeichen brach es nun von allen Seiten herein; eine ungeheure Verwirrung mit sich reißend, die jeder Augenblick aufs neue weiter breitete.

Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinn­iges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelc­her Erfinder an ein harmloses, erklärende­s Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureiße­n drohte. Gewiß: es gibt für alles eine einfache, natürliche Erklärung, und auch Törleß wußte sie, aber zu seinem furchtsame­n Erstaunen schien sie nur eine ganz äußere Hülle fortzureiß­en, ohne das Innere bloßzulege­n, das Törleß wie mit unnatürlic­h gewordenen Augen stets noch als zweites dahinter schimmern sah. So lag Törleß und war ganz eingesponn­en von Erinnerung­en, aus denen wie fremde Blüten seltsame Gedanken wuchsen. Jene Augenblick­e, die keiner vergißt, Situatione­n, wo der Zusammenha­ng versagt, der sonst unser Leben sich lückenlos in unserem Verstande abspiegeln läßt, als liefen sie parallel und mit gleicher Geschwindi­gkeit nebeneinan­der her, schlossen sich verwirrend eng aneinander. »22. Fortsetzun­g folgt

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