Mehr als 130 Menschen sterben
Noch immer sind viele verschüttet und vermisst
Amatrice Mitten in der Nacht reißt ein Erdbeben Einheimische und Touristen in den malerischen Bergen Mittelitaliens aus dem Schlaf. In wenigen Minuten werden mehrere Dörfer im Grenzgebiet zwischen den Regionen Marken, Umbrien und Latium in ein Katastrophengebiet verwandelt. „Das halbe Dorf ist verschwunden“, sagt der Bürgermeister des verwüsteten Amatrice, Sergio Pirozzi.
Am Abend verkündet Italiens Regierungschef Matteo Renzi, dass es nach dem Beben der Stärke 6,0 mindestens 120 Todesopfer sowie 368 Verletzte gibt. Die Zahl der Opfer drohe aber weiter zu steigen, weil viele Menschen noch vermisst würden. Er sollte Recht behalten: Kurz nach 23 Uhr meldet die Nach- richtenagentur Ansa 132 Tote. Rund 2000 Menschen haben ihre Häuser verloren. Auch in der 150 Kilometer entfernt liegenden italienischen Hauptstadt war das Beben mehrere Sekunden lang zu spüren. Das Kolosseum sollte auf Schäden hin überprüft werden.
Die italienische Regierung stellte eine Soforthilfe von 234 Millionen Euro bereit. Seit dem frühen Morgen versuchten Freiwillige, Zivilschutz, Polizei und Feuerwehr verschüttete Personen zu bergen. Zur Unterstützung wurden auch Teile des Militärs aus Rom in die Erdbebenregion abkommandiert. Mitglieder des Zivilschutzes aus ganz Italien wurden noch am Mittwoch in der Gegend um Amatrice erwartet, um Zeltstädte für die obdachlos gewordenen Anwohner zu errichten und die Menschen zu versorgen. 2500 Plätze wurden laut Bürgermeister Stefano Petrucci alleine in Accumoli benötigt. Erdbeben sind in Italien keine Seltenheit, weil das Land an der Schnittstelle mehrerer tektonischer Platten liegt. Das Beben vom Mittwoch aber war das schlimmste seit 2009, als im nahe gelegenen L’Aquila in den Abruzzen mehr als 300 Menschen bei einem Beben der Stärke 6,3 ums Leben kamen. In der Folge wurden vor allem die laxen Bauvorschriften kritisiert und die Tatsache, dass die Behörden die Bevölkerung nicht früh genug vorbereitet hatten.
Seismologen warnten am Mittwoch vor Nachbeben. Etwa 250 weitere Erdstöße hätten sich im Laufe des Tages ereignet, meldete das italienische Institut für Geophysik und Vulkanologie.
Amatrice Die Zeit steht still in Amatrice. Die Zeiger der Uhr am schmalen, mittelalterlichen Stadtturm im Zentrum wirken wie erstarrt. Auch jetzt, in der Hektik der Rettungsarbeiten, stehen sie auf 3.38 Uhr. Das war der Zeitpunkt, als am frühen Mittwochmorgen die Erde in Mittelitalien bebte. Dieser Moment markiert das Ende des mit einer Stärke von mindestens 6,0 schwersten Erdstoßes der ganzen Nacht. 142 apokalyptische Sekunden lang grollt der Untergrund – und mit ihm Straßen, Häuser und Türme.
Die Folgen sind am frühen Morgen zu sehen. Es sind Bilder wie aus einem Krieg. Eingestürzte Gebäude, Trümmerhaufen, Staub – und verzweifelte, in warme Wolldecken gehüllte Menschen. Manche stehen vor ihren zu Ruinen zusammengestürzten Wohnhäusern, andere laufen immer noch schreiend durch die Straßen. Helfer sprechen mit verzweifelten Menschen, die unter den Steinmassen eingeklemmt sind, und sagen ihnen Hilfe zu.
Mehr als 130 Tote werden bis Mittwochnacht im Erdbebengebiet gezählt, dessen Epizentrum an der Grenze zwischen den Regionen Latium, Marken, Umbrien und Abruzzen lag. Doch wegen der vielen Vermissten könnte die Zahl der Opfer weiter steigen. Von tausenden obdachlos Gewordenen ist außerdem die Rede.
Als die Sonne am Mittwoch über Amatrice aufgeht, sieht man immer mehr Rettungskräfte auf den Trümmerhaufen. Manche tragen Helme, andere schaufeln mit ratlosem Gesichtsausdruck und bloßen Händen Schutt und Steine zur Seite. Von Koordination kann zunächst nicht die Rede sein, es ist eher ein verständlicherweise schlecht organisiertes Herumschwirren oder panisches Anpacken. Nicht weit vom Stadtturm wird ein eiliger Fernsehreporter von den Rettern aufgefordert zu schweigen. „Silenzio!“ruft einer. Man versucht, die Schreie der Verschütteten zu hören und sie so zu orten. Das ist schwierig, denn aus der Luft dringt bereits das Knattern der Rotoren eines Polizei-Hubschraubers. Wer einen Bagger hat, der ist mit diesem zu den Unglücksstellen gefahren und schaufelt unter lautem Donnern Steine zur Seite.
Ein Bild aus Amatrice, dem wohl am meisten bei diesem Beben zerstörten und rund 150 Kilometer von Rom entfernten Ort, prägt sich besonders ein. Es sind etwa ein Dutzend Männer, darunter ein Jugendlicher im schwarzen Kapuzenpulli, die auf einem Trümmerhügel einen jungen Mann unter schweren Betonplatten hervorziehen. Zwei Feuerwehrleute haben sich in den Spalt gezwängt und den Mann mit Schnauzbart auf eine Trage gehievt. Als er verstört nach etwa vier Stunden unter den Steinblöcken das Tageslicht erblickt, bückt sich ein Helfer mit blauem Hemd und orangefarbener Hose über den Geretteten. Er küsst ihn auf die Wange und legt ihm eine italienische Flagge über die Brust. Eine Geste, deren Sinn vielleicht nur ein bisschen Wärme nach Stunden der Verzweiflung sein soll.
Aber die Flagge steht auch für ein sich in regelmäßigen Abständen wiederholendes Ritual. Immer wieder erschüttern Erdbeben das Land, es herrschen Panik, Verzweiflung und Trauer. Dann folgt die Wut der Betroffenen, weil man weiß, wie anfällig Italien für seismische Ereignisse ist. Es wird dann von Bauspekulation, Schuld und großen Geschäften die Rede sein, aber weniger von nachhaltiger Prävention in der Zukunft. Oft hat man den Eindruck, dass Italien sich mit seinem Status als Nation von Erdbebenopfern abgefunden hat. Beinahe als seien die Beben ein Fanal der Unfähigkeit zum Wandel des ganzen Landes.
Als der Chef des italienischen Zi- Fabrizio Curcio, am Mittwoch in Rom vor die Presse geht, vergleicht er das aktuelle Beben mit der Wirkung desjenigen, das vor sieben Jahren 309 Tote in den Abruzzen und der Regionalhauptstadt L’Aquila gefordert hat. Aber in Erinnerung sind auch die beiden Erdbeben aus dem Jahr 2012 in der Emilia Romagna, ganz zu schweigen von den Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte in Umbrien, im Friaul, in Kampanien und anderswo. Täglich gibt es kleinere, nur von Spezialgeräten erfassbare Erdstöße auf der Apenninen-Halbinsel.
Sogar Kinder wissen in Italien, dass im eigenen Land die afrikanische und die eurasische Platte aufeinanderstoßen und permanent Erdstöße erzeugen. Am Mittwoch traf es vier Regionen mitten auf der italienischen Halbinsel, den nördlichen Zipfel von Latium, einen Teil der Marken, Umbrien und die Abruzzen. Gleichwohl war das Beben so stark, dass man es in Rom, Neapel oder Bologna spürte. Auch am Gran Sasso, dem höchsten Gipfel der Apenninen, brachen Gesteinsmassen ab. Im nahe gelegenen Norcia und in Urbino wurden historische Gebäude beschädigt.
Das Epizentrum soll sich in etwa vier Kilometer Tiefe unter dem 500-Einwohner-Dorf Accumoli befunden haben, sieben Tote und vier Vermisste hat es hier gegeben. Auch andere Orte wie das nahe gelegene Arquata del Tronto wurden in großen Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Hier wurden auch am Mittwochnachmittag noch heftige Erdvilschutzes, stöße gemeldet, der Schrecken ist offenbar noch nicht vorbei.
In Arquata del Tronto schlägt das Schicksal besonders tragisch zu: Eine Mutter, die wegen des schweren Bebens in L’Aquila vor sieben Jahren aus der Stadt nach Ascoli gezogen ist, hat bei dem jetzigen Beben nach Medienberichten ihr kleines Kind verloren. Martina Turco sei zusammen mit ihrem Partner und ihrer eineinhalbjährigen Tochter in Arquata del Tronto in ihrem Ferienhaus gewesen, als das Beben das Gebäude einstürzen ließ. Die Frau kam genauso wie der Vater in ein Krankenhaus.
Die Bürgermeister dieser Orte, die am Mittwoch trotz eines an vielen Stellen zusammengebrochenen Telefonnetzes erreichbar waren, haben vom Morgen an alle dasselbe Drama zu erzählen: Die Zufahrtsstraßen der Bergdörfer seien durch heruntergestürzte Trümmer versperrt, man versuche mit allen Mitteln die Überlebenden aus den Ruinen zu ziehen, aber die Prognosen für Vermisste seien äußerst schlecht. Schicksalhaft wirkt auch der Zeitpunkt der jetzigen Katastrophe. Die betroffenen Bergdörfer werden während des Jahres nur von wenigen hundert, selten tausenden Menschen bewohnt. Amatrice etwa hat normalerweise 2600 Einwohner. Über Generationen sind die Bewohner ausgewandert. Im August kommen viele zurück, um die Verwandtschaft zu besuchen, manchmal sind mehr Gäste als Einheimische im Ort. In wenigen Tagen sollte in Amatrice zudem das Fest der „Spaghetti all’Amatriciana“gefeiert werden, eines berühmten Nudelgerichts. Das Städtchen war auf Feierlichkeiten programmiert. Jetzt sagt Bürgermeister Sergio Prozzi: Der halbe Ort existiert nicht mehr. Mindestens 35 Tote gab es allein hier. Auf Luftbildern sieht Amatrice aus wie nach einem Bombardement. Grund dafür sind einerseits die teilweise mittelalterlichen Strukturen, das alte Gemäuer ist derartigen Erdstößen nicht gewachsen. Aber auch viele neuere Gebäude haben nachgegeben. Wie zum Beispiel das Krankenhaus am Ortseingang, das eigentlich der sicherste Ort im Dorf sein sollte. Stattdessen musste das kleine Hospital in der Nacht evakuiert werden. Abdeckungen stürzten zu Boden, von außen sieht das Krankenhaus aus wie ein Kasten, der jeden Moment in sich zusammenfallen könnte. Unter sämtlichen Fenstern haben sich tiefe Risse im Mauerwerk gebildet. Die Patienten sitzen oder liegen seit dem Morgengrauen auf dem Parkplatz. Ein paar bleiche Krankenschwestern kümmern sich um sie. Hundert Meter weiter in Richtung Dorf befindet sich der Konvent „Mater amabilis“ein von Ordensschwestern geleitetes Feriendomizil für hilfsbedürftige alte Menschen. Befand, muss man nun wohl schreiben. Von dem Gebäudekomplex steht noch die von Rissen durchzogene Fassade, durch zwei Fenster schimmert der blaue Himmel, weil das Dach eingestürzt ist. Mindestens drei Ordensschwestern und vier Seniorinnen sollen hier verschüttet worden sein. Das italienische Fernsehen zeigt Bilder einer Nonne, die in Panik vor dem „ Mater amabilis“vorbeiläuft, als wolle sie eigenhändig ihre verschollenen Mitschwestern retten. „Gott möge uns helfen“, sagt ein Pfarrer mit vom Schutt verstaubtem Hemd in
Helfer graben mit bloßen Händen nach Vermissten Die Patienten liegen auf dem Parkplatz
eine Kamera. Was bleibt, sind vor allem Ungewissheiten. Zahlreiche Kinder sollen unter den Trümmern gestorben sein. In Amatrice versuchte eine Gruppe afghanischer Flüchtlinge zwei Frauen zu retten. Ob sie dabei Erfolg hatten, ist unklar. Wie es heißt, sollen in einem Hotel im Zentrum des Ortes auch mehrere Touristen vom Erdbeben überrascht und eingeschlossen worden sein. Warum, lautet die drängendste Frage, wirkt Italien so unvorbereitet auf zu erwartende Ereignisse wie Erdbeben?
Antworten darauf hatte am Mittwoch kaum jemand. Schon gar nicht der zierliche, 27 Meter hohe, aber immer noch kerzengerade dastehende Stadtturm von Amatrice. Angesichts der Schwere des Erdbebens hätte er eigentlich als Erstes einstürzen müssen.
Tipps für Urlauber
Lassen sich geplante Pauschalreisen nach Rom oder an die Adria jetzt kostenlos stornieren? „Nein“, sagt der Reiserechtler Prof. Ronald Schmid von der TU Dresden. „Dass es gewackelt hat, ist nicht ausreichend.“Eine Kündigung wegen höherer Gewalt sei nur gerechtfertigt, wenn die Reise erheblich erschwert, gefährdet oder beeinträchtigt ist. Das reine Unwohlsein sei nicht ausreichend. Das gilt auch, falls Urlauber in Rom oder an der Adria jetzt auf Kosten des Veranstalters früher abreisen wollen. Was ist, wenn Reisende sich jetzt vor Nachbeben fürchten? „Angst ist kein Ratgeber“, sagt Schmid. Ein Seismologe müsste laut dem Experten zu der Einschätzung kommen, dass das Reiseziel von Nachbeben betroffen sein könnte und diese mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 30 Prozent eintreten. Eine feste Regelung, in welchem Umkreis vom Zentrum Urlauber kostenlos stornieren können, gebe es nicht. (dpa, AZ)