Frohnatur und Machtmensch
Viele denken bei Walter Scheel an seine Auftritte als Sänger. Doch der FDP-Politiker war viel mehr. Als Außenminister und Bundespräsident prägte er die Geschichte der Bundesrepublik in bewegten Zeiten
Berlin In Erinnerung blieb er als der singende Präsident. Auch lange nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten im Jahre 1979 verband sich mit Walter Scheel sein Auftritt mit zwei Männergesangsvereinen am 6. Dezember 1973 in der Fernsehshow „Drei mal Neun“. Zugunsten der Behindertenorganisation „Aktion Sorgenkind“sang er das Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“– und landete damit, noch als Außenminister der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt, einen verblüffenden Hit. Innerhalb weniger Monate wurde die Schallplatte mehr als 300 000 Mal verkauft.
Aber nicht nur deshalb genoss der FDP-Politiker, im Ausland damals auch als „Mister Bundesrepublik“gerühmt, bei der Bevölkerung hohes Ansehen und große Popularität, als er im Mai 1974 in der Bundesversammlung mit den Stimmen von SPD und FDP gegen Richard von Weizsäcker von der CDU zum vierten Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde.
Mit seinen 55 Jahren war er der bis dahin mit Abstand jüngste Bundespräsident. Zum ersten Mal zog eine Familie mit drei kleinen Kin- dern – und einem Hund – in die Villa Hammerschmidt in Bonn ein. Das ist lange her. Wie aus einer anderen Zeit. Joachim Gauck ist schon der siebte Präsident nach Scheel, der gestern mit 97 Jahren nach langer schwerer Krankheit in seinem Alterssitz in Bad Krozingen gestorben ist. Dort hatte er seine letzten Jahre unter Demenz leidend verbracht.
Politiker aller Parteien würdigten den Liberalen als großen Staatsmann. Sein Nachfolger Gauck sagte, Scheel habe „Großes geleistet“und sich „bleibende Verdienste für die Verständigung und Versöhnung auf unserem Kontinent erworben“. Sein Sangestalent, seine rheinische Fröhlichkeit sowie sein damals oft kritisierter luxuriöser Lebensstil mit großen Abendgesellschaften und geselligen Runden waren aber nur eine Seite dieses Mannes. Die andere: Scheel war auch ein knallharter Stratege und der bis dahin politischste Präsident. Und ein begnadeter Redner. Immer wieder mischte er sich in das politische Tagesgeschäft ein, hielt engen Kontakt zu Bundeskanzler Helmut Schmidt, mit dem er sich bestens verstand. Beide waren fast gleich alt, beide waren in der Weimarer Republik groß geworden und hatten den Zweiten Weltkrieg als Oberleutnant erlebt und erlitten. Das verband sie.
Nicht zuletzt hatten beide maßgeblich mit Willy Brandt zur Bildung der ersten sozialliberalen Koalition von SPD und FDP beigetragen – Scheel als Vizekanzler und Außenminister, Schmidt erst als Verteidigungs-, dann als Finanzminister. Die Bundestagswahl 1969 war eine Zäsur historischen Ausmaßes; sie beendete nicht nur die 20-jährige Regierungszeit der CDU, die bis dahin mit Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger alle Kanzler gestellt hatte, sondern sie leitete auch eine grundlegende Wende in der Außen- und Gesellschaftspolitik ein.
Walter Scheel, von 1968 bis 1974 auch FDP-Chef, gehörte zu den Vätern der neuen Ostpolitik und setzte sich maßgeblich für den europäischen Einigungsprozess ein. Er suchte die Annäherung mit der Sowjetunion und der DDR und war neben dem SPD-Politiker Egon Bahr an den Verhandlungen der sogenannten Ostverträge beteiligt, die im Rückblick als Grundlage für die Wiedervereinigung Deutschlands nach dem Fall der Mauer 1990 betrachtet werden. In der eigenen Partei machte sich Scheel damit allerdings nicht nur Freunde, es kam zu Austritten und Protesten des national-liberal gesinnten Flügels. Die knappe Mehrheit im Bundestag schmolz dahin. „Walter Scheel hat seiner Partei und den Bürgern seines Landes viel zugemutet“, schrieb sein Nachfolger als FDP-Chef und Außenminister, Hans-Dietrich Genscher, Jahre später im Rückblick auf diese Zeit. „Damals haben viele darunter gelitten. Heute sind ihm wohl alle dankbar dafür.“
Scheel, 1919 bei Solingen geboren, stammte aus kleinen Verhältnissen und arbeitete sich mit Fleiß, Ehrgeiz und Zielstrebigkeit nach oben. Vor dem Krieg absolvierte er eine Banklehre. In der jungen Bundesrepublik arbeitete er als Geschäftsführer in der Industrie und in Verbänden sowie als Unternehmer. Schon 1946 schloss er sich der FDP an und gehörte Mitte der 50er zu den sogenannten „Jungtürken“, die in Nordrhein-Westfalen den Wechsel weg von der CDU hin zu einer Koalition mit der SPD forcierten. Das Düsseldorfer Modell stand Pate für den Machtwechsel in Bonn 1969. Anfang der 70er Jahre verantwortete er als Parteichef die „Freiburger Thesen“und gab damit den Liberalen ein modernes Reformprogramm. Seit 1953 gehörte Scheel dem Bundestag an, von 1967 bis 1969 war er Vizepräsident des Parlaments. Schon unter Konrad Adenauer wurde er 1961 zum ersten Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ernannt und blieb dies auch unter Ludwig Erhard. Als 1979 seine Amtszeit als Bundespräsident auslief, verzichtete er auf eine Wiederwahl – gegen den Wunsch einer großer Mehrheit der Deutschen. Allerdings hatten SPD und Liberale in der Bundesversammlung keine Mehrheit mehr. Die Union wählte Karl Carstens.
Später war der Altpräsident ein gern gesehener Gast bei Empfängen und Veranstaltungen, zudem engagierte er sich in zahlreichen Stiftungen. Er kokettierte damit, eine Art „freier Mitarbeiter der Bundesrepublik Deutschland“zu sein.
Die FDP verliert mit Walter Scheel nach Guido Westerwelle und Hans-Dietrich Genscher innerhalb eines Jahres ihren dritten Ex-Parteichef.
Mit Willy Brandt fädelte er den Machtwechsel ein In der FDP hatte er nicht nur Freunde