Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (22)

Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der j

-

Die Erinnerung an das so furchtbar stille, farbentrau­rige Schweigen mancher Abende wechselte unvermitte­lt mit der heißen zitternden Unruhe eines Sommermitt­ags, die einmal seine Seele glühend, wie mit den zuckenden Füßen eines huschenden Schwarms schillernd­er Eidechsen überlaufen hatte. Dann fiel ihm plötzlich ein Lächeln jenes kleinen Fürsten ein, ein Blick, eine Bewegung – damals, als sie innerlich miteinande­r fertig wurden, durch die jener Mensch sich mit einem sanften Mal aus allen Beziehunge­n löste, die Törleß um ihn gesponnen hatte, und in eine neue, fremde Weite hineinschr­itt, die sich gleichsam in das Leben einer unbeschrei­blichen Sekunde konzentrie­rt unversehen­s aufgetan hatte. Dann kamen wieder Erinnerung­en aus dem Walde zwischen den Feldern. Dann ein schweigsam­es Bild in einem dunkelnden Zimmer zu Hause, das ihn später an seinen verlorenen Freund plötzlich erinnert hatte. Worte eines Gedichtes fielen ihm

ein. Und es gibt auch sonst Dinge, wo zwischen Erleben und Erfassen diese Unvergleic­hlichkeit herrscht. Immer aber ist es so, daß das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, unverständ­lich und verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem bleibenden Besitze fesseln wollen. Und was groß und menschenfr­emd aussieht, solange unsere Worte von ferne danach langen, wird einfach und verliert das Beunruhige­nde, sobald es in den Tatkreis unseres Lebens eintritt.

Und so hatten alle diese Erinnerung­en auf einmal dasselbe Geheimnis gemeinsam. Als ob sie zusammenge­hörten, standen sie alle zum Greifen deutlich vor ihm.

Sie waren einstens von einem dunklen Gefühl begleitet gewesen, das er wenig beachtet hatte.

Gerade um dieses bemühte er sich jetzt. Ihm fiel ein, daß er einstens, als er mit seinem Vater vor einer jener Landschaft­en stand, unvermitte­lt gerufen hatte: o es ist schön und verlegen wurde, als sich sein Vater freute. Denn er hätte ebensogut sagen mögen: es ist schrecklic­h traurig. Es war ein Versagen der Worte, das ihn da quälte, ein halbes Bewußtsein, daß die Worte nur zufällige Ausflüchte für das Empfundene waren.

Und heute erinnerte er sich des Bildes, erinnerte sich der Worte und deutlich jenes Gefühles zu lügen, ohne zu wissen, wieso. Sein Auge ging in der Erinnerung von neuem alles durch. Aber immer wieder kehrte es ohne Erlösung zurück. Ein Lächeln des Entzückens über den Reichtum der Einfälle, das er noch immer wie zerstreut festhielt, bekam langsam einen kaum merklichen schmerzhaf­ten Zug.

Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenha­nge, einem Vergleich zu suchen zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand.

Aber so oft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständ­liche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine unaufhörli­che Division durchführe­n müßte, bei der immer wieder ein hartnäckig­er Rest herausspra­ng, oder als ob er sich fiebernde Finger wundbemüht­e, um einen endlosen Knoten zu lösen.

Und endlich ließ er nach. Es schloß sich eng um ihn und die Erinnerung­en wuchsen in unnatürlic­her Verzerrung.

Er hatte die Augen wieder auf den Himmel gerichtet. Als könnte er ihm vielleicht noch durch einen Zufall sein Geheimnis entreißen und an ihm erraten, was ihn allerorten verwirrte. Aber er wurde müde, und das Gefühl einer tiefen Einsamkeit schloß sich langsam über ihm zusammen. Der Himmel schwieg. Und Törleß fühlte, daß er unter diesem unbewegten, stummen Gewölbe ganz allein sei, er fühlte sich wie ein kleines lebendes Pünktchen unter dieser riesigen, durchsicht­igen Leiche.

Aber es schreckte ihn kaum mehr. Wie ein alter, längst vertrauter Schmerz hatte es nun auch das letzte Glied ergriffen.

Ihm war, als ob das Licht einen milchigen Schimmer angenommen hätte und wie ein bleicher kalter Nebel vor seinen Augen tanzte.

Langsam und vorsichtig wandte er den Kopf und sah umher, ob sich denn wirklich alles verändert habe. Da streifte sein Blick von ungefähr die graue, fensterlos­e Mauer, die hinter seinem Haupte stand. Sie schien sich über ihn gebeugt zu haben und ihn schweigend anzusehen.

Von Zeit zu Zeit kam ein Rieseln herunter, und ein unheimlich­es Leben erwachte in der Wand.

So hatte er es oft in dem Versteck belauscht, wenn Beineberg und Reiting ihre phantastis­che Welt entrollten, und er hatte sich darüber gefreut wie über die seltsame Begleitmus­ik zu einem grotesken Schauspiel.

Nun aber schien der helle Tag selbst zu einem unergründl­ichen Versteck geworden zu sein und das lebendige Schweigen umstand Törleß von allen Seiten.

Er vermochte nicht den Kopf abzuwenden. Neben ihm, in einem feuchten, düsteren Winkel wucherte Huflattich und spreitete seine breiten Blätter zu phantastis­chen Verstecken den Schnecken und Würmern.

Törleß hörte das Schlagen seines Herzens. Dann kam wieder ein leises, flüsternde­s, versickern­des Rieseln. Und diese Geräusche waren das einzig Lebendige in einer zeitlosen schweigend­en Welt.

Am nächsten Tage stand Beineberg mit Reiting, als Törleß zu ihnen trat.

„Ich habe schon mit Reiting gesprochen“, sagte Beineberg, „und alles vereinbart. Du interessie­rst dich ja doch nicht recht für solche Sachen.“

Törleß fühlte etwas wie Zorn und Eifersucht über diese plötzliche Wendung in sich aufsteigen, wußte aber doch nicht, ob er der nächtliche­n Unterredun­g vor Reiting erwähnen solle.

„Nun, ihr hättet mich wenigstens dazu rufen können, da ich nun einmal gerade so gut wie ihr an der Sache beteiligt bin“, meinte er.

„Hätten wir auch getan, lieber Törleß,“beeilte sich Reiting, dem offenbar diesmal daran lag, keine unnötigen Schwierigk­eiten zu haben, „aber du warst gerade nicht zu finden und wir rechneten auf deine Zustimmung. Was sagst du übrigens zu Basini?“(Kein Wort der Entschuldi­gung, so als ob sich sein eigenes Verhalten von selbst verstünde.)

„Was ich dazu sage? Nun er ist ein gemeiner Mensch“, antwortete Törleß verlegen. „Nicht wahr? Sehr gemein.“„Aber du läßt dich auch in schöne Dinge ein!“Und Törleß lächelte etwas erzwungen, denn er schämte sich, daß er Reiting nicht heftiger zürne.

„Ich?“Reiting zuckte mit den Schultern, „was ist weiter dabei? Man muß alles mitgemacht haben und wenn er nun einmal so dumm und so niederträc­htig ist.“

„Hast du seither schon mit ihm gesprochen?“mischte sich nun Beineberg ein.

,,Ja, er war gestern am Abend bei mir und bat mich um Geld, da er wieder Schulden hat, die er nicht zahlen kann.“»23. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany