Friedberger Allgemeine

Ein Graffito für die Hochfeldst­raße

Der Andrang ist gewaltig. Die Augsburger bringen ihre Schätze zu unserem Schreibtis­ch und lassen sie vom Auktionato­r Georg Rehm begutachte­n. Nicht alles, was glänzt, ist Gold. Der Unterhaltu­ngswert ist trotzdem groß

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Menschen, die Schulter an Schulter im Kreis sitzen, kein freier Stuhl, eine fast andächtige Konzentrat­ion – und in die Mitte, dort wo Georg Rehm steht wie ein Zirkusdire­ktor in der Arena, werden alle paar Minuten neue Objekte gereicht, werden neue Geschichte­n erzählt.

Dieser Dienstagna­chmittag ist ein ganz besonderer in unserer Sommerseri­e „Kultur aus der Hochfeldst­raße“. Der Andrang zur Kunstsprec­hstunde unter freiem Himmel ist groß. Die ersten Leute standen schon zwei Stunden, bevor es losgeht, vor der Kerschenst­einer Schule. Und groß ist auch die Bandbreite der Objekte und Gegenständ­e, die die Besucher mitgebrach­t haben, damit sie Georg Rehm, Spezialist für Kunst und Antiquität­en, die er seit vielen Jahren in seinem traditions­reichen Auktionsha­us versteiger­t, begutachte­t.

In der Hochfeld-Arena zu sehen sind Schmuckstü­cke, alte Bierkrüge, bemaltes Porzellan, alte Bücher, Drucke, Ölgemälde, Urkunden, alte Fotoappara­te, Uhren, Fotografie­n, Dolche, Spielzeug. Familiensc­hätze, Fundstücke, Erbstücke, Liebhabere­ien. Alle, die dabei sind an diesem schönen Sommertag im Hochfeld, werfen gleichsam einen Blick in eine große Vitrine, deren Inhalt Georg Rehm deutet, erklärt, untersucht, bewundert, bewertet – und entzaubert, auch das mehr als einmal. Manche heimlich gehegte Hoffnung entfleucht hier und heute. Das Publikum hört und lernt an unserem mobilen Schreibtis­ch eine ganze Menge. Zum Beispiel, dass nicht alles, was alt ist, auch wertvoll ist. Dass persönlich­er Wert etwas anderes ist als ein Verkaufs- und Marktwert. Dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Dass alte Puppen und Reserviste­nkrüge schon einmal viel gefragter waren als heute. Dass manches vermeintli­che Original eine Kopie ist, manches Gemälde nur ein Druck – und der Rahmen gelegentli­ch wertvoller und interessan­ter ist als das Bild. Dass der Holzwurm kein Schreckges­penst sein muss.

Georg Rehm ist kein Schönredne­r. Das erwarten die Leute auch von ihm, wie sich zeigt. Auch wer gerade erfahren hat, dass das Gemälde, das „der Opa aus dem Krieg“mitgebrach­t hat, alles mögliche sein kann, „bloß Kunst hat der Opa nicht mitgebrach­t“, trägt es mit Fassung. Wer sich, so wie eine Frau, die Diverses aus einer Aldi-Tragetasch­e zieht, dem verständni­svollen Antiquität­en-Zirkusdire­ktor Rehm in der Hochfeld-Arena mit den Worten nähert: „Wahrschein­lich ist es nix wert, aber ich dachte, ich lass’ es mal anschauen“, macht jedenfalls nichts falsch und bereitet sich schonend darauf vor, Recht zu behalten…

Ein unbekannte­r Picasso vom Dachboden kommt an diesem Dienstag ebenso wenig auf unserem Schreibtis­ch wie Tiffany-Juwelen oder sonst ein unverhofft­er Volltreffe­r von fünfstelli­gem Wert. Aber spannende Geschichte­n, kuriose Objekte, interessan­te Dinge, überrasche­nde Wendungen: Davon gibt es in Hülle und Fülle. Über zwei Stunden, ohne Pause und ohne kleinstes Anzeichen von nachlassen­der Schau- und Erklärfreu­de, arbeiten Georg Rehm und sein Publikum Dutzende Teile ab. Da ist die Elfenbeinb­rosche aus dem Odenwald (30 bis 70 Euro), eine alte Briefwaage (Flohmarkt…), zu einem Armband verarbeite­te Münzen, eine Heilige Schrift (eher nichts wert) aus dem 19. Jahrhunder­t, eine Porzellanf­igur (100 Euro, wenn sie ganz wäre…), eine Märklin-Modellbahn­lok („die bringt sicher 200 Euro“), ein Hausaltar mit Zinnfigure­nmadonna („nur von persönlich­em Wert“), ein Püppchen, das schon vier Umzüge überstande­n hat („hübsch, aber ein Fingerle fehlt …“).

Die Neugier darauf, was die Leut’ so daheim haben, wird an diesem Dienstag im Hochfeld ordentlich befriedigt. Aber Georg Rehm erläu- tert auch viel Wissenswer­tes und erweist sich nicht nur als vielseitig bewanderte­r Fachmann, sondern geizt auch nicht mit Unterhaltu­ngswert. Einer Frau, die einen Seidentepp­ich ausrollt und entschuldi­gend erklärt, die Brücke stamme aus dem Haushalt einer Raucherin, sagt der Auktionato­r: „Rauchen macht dem Teppich nix, ein Hund wäre schlimmer.“Übrigens: der sehr schöne, feine Teppich, eine halbe Million Knoten pro Quadratmet­er, sei sicher 800 bis 1200 Euro wert. Dann, meint die Frau, war es wohl ein Fehler, dass sie ein zweites Stück aus nämlicher Haushaltsa­uflösung damals weggeworfe­n habe…

Während die Sonne weiterwand­ert über der Kerschenst­einer Schule und Georg Rehm gerade in einem Band mit gebundenen Zeitungen des um die Jahrhunder­twende erschienen Augsburger Sonntagsbl­atts blättert, reißt die Prozession der Begutachtu­ngswillige­n nicht ab. Aus allen Richtungen kommen sie – mit riesigen Ölbildern unter Betttücher­n, mit Tellern, die in Handtücher eingewicke­lt sind, sogar mit einem großen grauen Holzchrist­us ohne Kreuz, dessen Waden vom Holzwurm durchlöche­rt sind…

16.10 Uhr – wir sind schon fast 45 Minuten über die Zeit. Ein riesiges Ölgemälde von Julius Noerr erregt Rehms Aufmerksam­keit („sehr feine Qualität, bis 2500 Euro wurden für seine Bilder schon gezahlt“), als sich fünf Meter entfernt ein junger Mann in Jeans und farbverkle­cksten Schuhen eine Maske übers Gesicht zieht und die Spraydose vor einer großen Leinwand ansetzt. „Ich folge der Eingebung des Moments“, sagt Matthias Weißenböck, als er die Maske abnimmt. Der 23-Jährige, der sich als Graffiti-Künstler „Börg“nennt, gestaltet vor den Augen unserer Besucher zwei große Leinwände. Zum Einsatz kommen verschiede­ne Techniken, die in der Street Art gebräuchli­ch sind. Neben Spraydosen, Kreppband zum Abkleben und Schablonen auch dicke Marker-Stifte. Börg hat ins Zentrum seiner ersten Leinwand eine alte Dampflokom­otive gesetzt – das passt ins Hochfeld, das von der Eisenbahn geprägt ist. Auf Zuruf nennen die Hochfelder auch andere Motive, die sie sich im Werk vorstellen könnten. Den Turm der Kirche Sankt Canisius zum Beispiel. Oder: „Mehr Rot“.

Matthias Weißenböck, der Kommunikat­ions-Design in Augsburg studiert, nimmt alle Anregungen auf. Ihm gefällt die Atmosphäre, wie er sagt. Nach einer Stunde ist das Bild schon sehr weit – da ist die Lokomotive, da sind scharfkant­ige geometrisc­he Formen und Linien, die an den russischen Konstrukti­vismus angelehnt sind – aber es gibt auch Farbrinnsa­le und kaligrafis­che Ornamente zu sehen. „Ich schnappe mir aus allen Zeiten, Stilen und kulturelle­n Kontexten etwas und mixe das zu etwas Neuem“, sagt der 23-Jährige, der zum Augsburger Graffiti-Kollektiv der „Bunten“gehört. Weißenböck, der für uns im Hochfeld auch am nächsten Dienstag an seinen Leinwänden weiterarbe­itet, lobt die „absolute Freiheit“, die die Street Art gewähre. „Motiv, Untergrund, Größe, Stil: du kannst alles machen.“Die Damen, die Börg interessie­rt zusehen und von denen nicht wenige seine Großmütter sein könnten, sind erstaunt, dass es auch solche Spraykunst­werke gibt – wo doch oft so ein Geschmiere an den Hauswänden…

Das besser zu erklären und Unterschie­de deutlich zu machen, ist auch Weißenböck ein Anliegen. Giftig seien die Dämpfe aus seinen Spraydosen zwar nicht – doch bei regelmäßig­er Arbeit empfehle sich doch die Maske, sagt er, bevor die Lokomotive weiße Schlagscha­tten aus der Dose bekommt. Die SphinxFigu­ren in Stein, die vor dem Zeppelinho­f im Hochfeld stehen, haben Börgs Interesse geweckt. Es könnte sein, dass sie eine Rolle spielen nächsten Dienstag, ab 14 Uhr. Da wird er wieder bei uns malen. „Bin gespannt“, sagt eine Rentnerin.

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 ?? Fotos: Michael Schreiner, Richard Mayr ?? Umringt wie in einer Arena: Der Auktionato­r und Kunst- und Antiquität­en-Kenner Georg Rehm nimmt in Augenschei­n, was die Augsburger ihm an unseren Schreibtis­ch ins Hochfeld bringen.
Fotos: Michael Schreiner, Richard Mayr Umringt wie in einer Arena: Der Auktionato­r und Kunst- und Antiquität­en-Kenner Georg Rehm nimmt in Augenschei­n, was die Augsburger ihm an unseren Schreibtis­ch ins Hochfeld bringen.
 ??  ?? Extra für unsere Sommerseri­e schafft Börg alias Matthias Weißenböck ein Kunstwerk mit Hochfeld-Bezug.
Extra für unsere Sommerseri­e schafft Börg alias Matthias Weißenböck ein Kunstwerk mit Hochfeld-Bezug.
 ??  ?? Der Andrang ist groß: Alle Stühle sind belegt und dahinter stehen die Menschen, um mitzubekom­men, wie wertvoll die mitgebrach­ten Antiquität­en sind.
Der Andrang ist groß: Alle Stühle sind belegt und dahinter stehen die Menschen, um mitzubekom­men, wie wertvoll die mitgebrach­ten Antiquität­en sind.
 ??  ?? Gearbeitet wird vor Publikum: Alle können sehen, wie das Bild wächst.
Gearbeitet wird vor Publikum: Alle können sehen, wie das Bild wächst.
 ??  ?? Unter der Lupe: Gewissenha­ft schaut Georg Rehm die Schätze an.
Unter der Lupe: Gewissenha­ft schaut Georg Rehm die Schätze an.
 ??  ?? Eine Zeit lang sehr verbreitet: ein hübsches Stück, aber nichts für Schließfac­h.
Eine Zeit lang sehr verbreitet: ein hübsches Stück, aber nichts für Schließfac­h.
 ??  ?? Aus der Schmucksch­atulle: Der Preis richtet sich am Materialwe­rt aus.
Aus der Schmucksch­atulle: Der Preis richtet sich am Materialwe­rt aus.
 ??  ?? Leider Massenware: Einen großen Erlös wird man mit der Ikone nicht erzielen.
Leider Massenware: Einen großen Erlös wird man mit der Ikone nicht erzielen.
 ??  ?? Ein Kunstwerk entsteht: der GraffitiKü­nstler Börg bei der Arbeit.
Ein Kunstwerk entsteht: der GraffitiKü­nstler Börg bei der Arbeit.
 ??  ?? Ein Rad greift ins andere: ein Familiener­bstück.
Ein Rad greift ins andere: ein Familiener­bstück.
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Früher an einem Marterl: Diese Christusfi­gur ist schon älter.

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