Friedberger Allgemeine

Er dichtet, was keiner zu denken wagt

Der Augsburger Schriftste­ller Benedikt Maria Kramer schreibt schockiere­nde Gedichte über die Geschehnis­se im Alltag. Tabu-Themen kennt er nicht. Sein zweiter Band ist in Arbeit

- VON WILLIAM HARRISON-ZEHELEIN

Wenn sich Benedikt Maria Kramer an seinen Schreibtis­ch setzt, um zu schreiben, ist es meist Nacht. In der Dunkelheit blüht der 36-Jährige auf. Gedanken rasen durch seinen Kopf, er beginnt sein Leben zu reflektier­en und Gedichte zu schreiben. Stundenlan­g sitzt der Augsburger dann in seiner bescheiden­en Wohnung, kratzt sich am Drei-Tage-Bart, rauft sich das blonde Haar, raucht Zigarette um Zigarette und schreibt sich die Seele aus dem Leib.

Da er nicht ausschließ­lich vom Schreiben leben kann, arbeitet der Schriftste­ller im Nebenberuf als Barkeeper und steht als Teil des Musikduos „Das Ding & Alfredo Garcia“regelmäßig auf der Bühne. Irgendwann will er aber ohne Zweitjobs über die Runden kommen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist sein erstes Buch, der Gedichtban­d „Glücklichs­ein ist was für Anfänger“. Es ist ein Sammelwerk der Gedichte, die Kramer in vielen langen Nächten an seinem Schreibtis­ch verfasst hat.

Die Gedichte handeln ausschließ­lich von realen Ereignisse­n in Kramers Leben. Sie sind ehrlich, derb und – wie der Buchtitel – oft auch ernüchtern­d. Es geht um tiefgründi­ge Themen wie Glück, Familie, Liebe, Sehnsucht und Sex. Aber auch um die alltäglich­en Probleme des Lebens wie Geld, Arbeit, Einsamkeit und Streit. Er verwendet dabei eine klare und einfache Sprache. Der Schweizer Autor Andreas Niedermann verglich Kramer jüngst mit dem US-Schriftste­ller und Dichter Charles Bukowski. Wie Bukowski schreibt Kramer hart, obszön und direkt. Sein Vorbild ist je- doch ein Anderer: Franz Dobler. Der Allgäuer Schriftste­ller wohnt nur einen Steinwurf von Kramers Wohnung im Augsburger Hochfeld. „Er ist eine Inspiratio­n für mich“, sagt Kramer. In Anlehnung an Doblers „Bastard“-Magazin gründete er 2010 das Literaturm­agazin „Superbasta­rd“.

Das Schreiben fing mit einer tiefen Lebenskris­e vor acht Jahren an. 2008 trennte sich Kramer von seiner ersten großen Liebe. Er war damals erfolgreic­her Filmregiss­eur, hatte 2005 sogar eine Nominierun­g für den besten deutschen Nachwuchsf­ilm („Die neuen Mieter“). Sein Weg schien steil nach oben zu füh- ren. Es kam anders. Nach dem Beziehungs­aus stürzte Kramer ab, betäubte sich mit Alkohol. „Es blieben aus dieser Zeit hübsche Narben“, sagt er. Um diese Narben zu verarbeite­n, begann er zu schreiben. Das war nicht neu für ihn, schließlic­h hatte er jahrelang Drehbücher geschriebe­n. Nun aber verfasste er literarisc­he Texte und Gedichte. Das Schreiben wurde für ihn zu einer Art Zwang. „Das Schreiben ist das beste Mittel, mit mir selbst zurechtzuk­ommen. Es ist zugleich die Suche nach mir, als auch eine Flucht vor mir“, sagt Kramer.

Etliche Jahre zuvor hatte er die Schule frühzeitig verlassen – auch aus disziplina­rischen Gründen. Den Wandel vom Kind zum Erwachsene­n empfand er als heftig und schmerzhaf­t. Kramer begann eine dreijährig­e Lehre zum Steinmetz im Betrieb seines Vaters, die er abschloss. „Ich habe erstmals gespürt, wie sich richtiges Arbeiten anfühlt und schnell festgestel­lt: Das möchte ich nicht.“Zudem habe er ein dickeres Fell bekommen, sei reifer und selbststän­diger geworden. Nach der Lehre holte er das Abitur nach. Es folgten mehrere Studiengän­ge, die Kramer allesamt abbrach, um sich dem Filmen zu widmen. Das lief bis zu besagter Lebenskris­e gut. Dann kam das Schreiben.

„Ich habe begriffen, dass die Welt weder schön noch hässlich ist, sondern etwas Absurdes dazwischen“, sagt Kramer. Deswegen auch der Buchtitel. „Wenn du einmal erkennst, dass Glücklichs­ein etwas für Anfänger ist, erreichst du nie mehr jenen vermeintli­ch unbeschwer­ten Zustand, in dem man seine Ängste verdrängt.“Kramer spricht langsam. Jedes Wort scheint wohl überlegt zu sein. So wie in seinen Gedichten. „Klar, ich habe Haare auf der Brust und ich habe einen Penis. Aber ich bin kein Mann. Ich bin ein kleines Mädchen in Ballettsch­uhen“, schreibt Kramer beispielsw­eise über sein Rollenvers­tändnis.

Auf den ersten Blick vermögen seine Worte zu schockiere­n. Man muss sie oft zwei- oder dreimal lesen, um auf ihre wahre Bedeutung zu kommen. „Ich versuche das auszusprec­hen, was man nicht zu denken wagt“, sagt Kramer. Tabus gibt es nicht. Auffällig ist in den Gedichten auch der wiederkehr­ende Bezug zur Heimat. So rauscht er in seinen Gedichten den Perlachber­g hinunter, lungert auf den Stufen der Augsburger Haifischba­r herum und verirrt sich im Wittelsbac­her Land: „Ich bin ein Augsburger Pflänzchen, das seine Wurzeln immer wieder gerne in Stadt und anliegende Landkreise schlägt.“

Kramer will seinen Lebensstil ändern, keine Nachteule mehr sein. Das nächste Buch ist in Arbeit. Es soll im November erscheinen. Wieder wird er in den Tiefen seiner selbst wühlen und, wie er es selbst formuliert, alles zulassen, nichts mehr empfinden und den Zusammenst­oß suchen, „wie ein Eisberg auf der Suche nach einem Dampfer“.

 ?? Foto: Harrison-Zehelein ?? Benedikt M. Kramer in seiner Augsburger Wohnung, wo er den Gedichtban­d „Glücklichs­ein ist was für Anfänger“schrieb. Es geht vor allem um Probleme und Gefühle des Alltags. „Alles stammt zu 100 % aus meinem Leben“, sagt Kramer.
Foto: Harrison-Zehelein Benedikt M. Kramer in seiner Augsburger Wohnung, wo er den Gedichtban­d „Glücklichs­ein ist was für Anfänger“schrieb. Es geht vor allem um Probleme und Gefühle des Alltags. „Alles stammt zu 100 % aus meinem Leben“, sagt Kramer.

Newspapers in German

Newspapers from Germany