Das Geheimnis des toten Mädchens
Stadtarchäologen entdecken ungewöhnliche Grabbeigaben aus der späten Römerzeit am Ulrichsplatz. Warum die Funde die Erwartungen übertreffen
Ein Schmuckkästchen aus der späten Römerzeit ist einer der ungewöhnlichsten Funde am Ulrichsplatz. Es stammt aus dem Grab eines kleinen Mädchens, das nur ein bis zwei Jahre alt wurde. Das Kind muss sehr geliebt worden sein und vermögende Eltern gehabt haben. Sie legten ihm viele teure Beigaben mit in die letzte Ruhestätte. Darunter war das reich verzierte Kästchen, das in dieser Art zum ersten Mal in Augsburg gefunden wurde.
Das Ungewöhnlichste daran: Auf den Bronzeblechen außen sind römische Götter neben christlichen Szenen dargestellt. „Interessant ist, dass sich hier der Übergang vom Heidentum zum Christentum am Wandel in den Beigabensitten aufzeigen lässt“, sagt Stadtarchäologe Günther Fleps. Das Kästchen wird auf eine Zeit datiert, die etwa 50 Jahre nach Ende der Christenverfolgung anzusetzen ist.
Fleps ist wissenschaftlicher Grabungsleiter auf dem Grundstück der evangelischen Kirche am Ulrichsplatz. Auf dem Areal, das neu bebaut werden soll, sichern die Stadtarchäologen seit 2012 – mit längeren Unterbrechungen – Spuren der Augsburger Geschichte. Die Grabungen sind weit vorangekommen, aber noch nicht zu Ende. Hier eine Zwischenbilanz.
und um St. Ulrich und Afra erstreckte sich zur Römerzeit ein ausgedehntes Gräberfeld. Das ist aus Grabungen seit den 1960er Jahren bekannt. Die Gräber waren entlang der Via Claudia, der wichtigen Verbindungsstraße vom römischen Augsburg nach Italien, angelegt worden. „Damals waren Bestattungen nur außerhalb der Stadtmauern erlaubt“, sagt Fleps. Die bestatteten Körper waren ostwestlich ausgerichtet und die Gräber nahezu alle beigabenlos.
Die Stadtarchäologen gehen davon aus, dass dieser Abschnitt des Gräberfeldes ab dem späten 4. Jahrhundert nach Christus angelegt wurde mit einer nahtlosen Kontinuität der Bestattungen bis ins frühe Mittelalter. Auch auf dem Grundstück am Ulrichsplatz wurden 20 Gräber entdeckt, geringe Überreste dieses einst auch an dieser Stelle dicht belegten Gräberfeldes. Anders als die weiter südlich entdeckten, hauptsächlich christlichen Gräber waren etliche Bestattungen hier mit typisch heidnisch-römischen Speiseund Trankbeigaben ausgestattet. Besonders reich bestückt war das Grab des kleinen Mädchens. Die Archäologen haben rekonstruiert, dass es mit kostbaren Ketten aus Perlen, Korallen und Gold geschmückt wurde. Das tote Kind trug auch ein Diadem mit Schleier. In dem beigelegten Kästchen im Grab fanden sich eine Silbermünze, die Reste eines Armbandes mit Glasperlen, Glasplättchen eines weiteren Diadems und ein Kamm aus Hirschgeweih. Das Schmuckkästchen selbst wird gerade restauriert.
Weitere Beispiele von Funden: Vom Frühmittelalter bis ins Hochmittelalter betrieben im Bereich des Ulrichsplatzes Weber über mehrere Generationen ihr Handwerk. Sie benötigten eine konstant hohe Luftfeuchtigkeit für die Verarbeitung von Leinenfasern. Deshalb errichteten sie in den Boden eingetiefte Grubenhäuser, in denen der Webstuhl aufgestellt war.
Aus dem Hochmittelalter stammt ein abgebranntes Holz-Fachwerkgebäude mit Unterkellerung. Die Kellerdecke stürzte bei einem Brand ein. Übrig blieben verkohlte Deckenbalken. Auch der darüber liegende Lehmfußboden des Erdgeschosses blieb erhalten. Die Archäologen vermuten, dass es die Wohnund Werkstätte eines Schlossers war. Denn sie fanden im Keller etliche Schlüssel und ein Schloss.
Spätestens ab dem 13. Jahrhundert sei eine kontinuierliche Besiedlung des Grundstücks nachweisbar, so der wissenschaftliche GrabungsIn leiter. Bevor das zum Lechtal hin abfallende Areal bebaut werden konnte, musste der Hang mit Hilfe von Stützmauern terrassiert werden. Davon zeugt noch heute die aus dem 14. Jahrhundert stammende Mauer am Afragässchen.
Die überlieferten Anwohner gehören zu den namhaften Augsburger Kaufmanns- und Patrizierfamilien. Nachgewiesen ist Ulrich Hofmair, Protonotar und Diplomat am Hof Kaiser Ludwig IV. (des Bayern). Familienmitglieder der Rehlinger, Meuting, Rem und Widholz wohnten dort, aber auch die Stridbecks, bedeutende Kupferstecher und Kartenverleger. Später ging das Grundstück in den Besitz der protestantischen Pfarrzeche St. Ulrich über.
Unter den zahlreichen Funden auf dem Grundstück sind kostbare Gläser, Tafelgeschirr und Speisereste aus dem Besitz der Familie Hofmair. Außerdem das Bruchstück eines Hauswappens aus gebranntem Ton. „Ein besonders schönes Fundstück ist eine spätmittelalterliche Madonna aus Elfenbein mit Spuren von Bemalung, die wohl ursprünglich als Verkleidung eines Reliquienkästchens diente“, sagt Fleps.
Wenn die Ausgrabungsdokumentation fertig ist und die Fundstücke restauriert sind, ist eine öffentliche Präsentation vorgesehen. Schon jetzt haben die Funde am Ulrichsplatz die Erwartungen der Stadtarchäologen übertroffen. In einem letzten Abschnitt sollen die Grabungen noch in einem kleinen Bereich am Milchberg weitergehen.
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Das tote Kind trug ein Diadem mit Schleier
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