Raketendämmerung in Baikonur
Wo Sputnik und Gagarin starteten: Vor 60 Jahren begann hier die Geschichte der russischen Raumfahrt. Was bleibt? Besuch in einer abgeriegelten Stadt
Wie ein Vorhang aus Stahl öffnet sich das Tor und gibt die Sicht frei auf die Rakete. Ein Pfeifsignal durchbricht die Stille. Langsam setzt sich eine grüne Diesellok in Bewegung. Sie zieht die 50 Meter lange Sojus aus der Montagehalle in die kasachische Steppe. An diesem eisigen Wintermorgen ist es noch finster. Langsam schälen sich Funktürme und Hallen aus dem Dunkel. Während der Raketenzug im Schritttempo zur Startrampe fährt, enthüllt die Morgenröte das Herz der russischen Raumfahrt: den Weltraumbahnhof Baikonur in der kargen Weite Zentralasiens.
Vor 60 Jahren, im Oktober 1957, hatte die Großmacht UdSSR hier mit ihrem ersten Satelliten „Sputnik“die Ära der Raumfahrt eingeläutet. Heute starten von Baikonur Menschen zur Internationalen Raumstation ISS. Doch auf dem Raketenbahnhof und in der Stadt trifft man auf kaputte Fenster und löchrigen Asphalt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion in Einzelstaaten 1990/91 verblasst der Glanz des Kosmodroms. Stirbt Baikonur? Seit Russland vor einem Jahr den neuen Weltraumbahnhof Wostotschny 5000 Kilometer weiter östlich, nahe der chinesischen Grenze, eröffnet hat, wächst die Konkurrenz, die Zahl der Raketenstarts von Baikonur wird wohl stetig abnehmen.
Maria Jarozkaja ist eine der wenigen, die sich noch an alle Etappen der Geschichte Baikonurs erinnern. Die heute 83-Jährige war Raketenspezialistin. Sie hat mitgewirkt am Aufstieg der Supermacht UdSSR. Nun erlebt die Rentnerin den schleichenden Abstieg Baikonurs. „Als ich hierher kam, war ich 23 Jahre alt. Und das Erste, was ich gesehen habe, war Steppe, Steppe, Steppe.“Maria traf im September 1956 ein, anderthalb Jahre, nachdem die Pioniere begonnen hatten, das Kosmodrom aus dem staubigen Boden zu stampfen. Seitdem beherrscht ein Gebäude der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos den Hauptplatz im Stadtzentrum. Maria berechnete die Raketen-Flugbahnen. Auch die der Flüge von Sputnik und Juri Gagarin.
Es war eine Weltpremiere, als die Sowjetunion am 4. Oktober 1957 einen Satelliten ins All schoss. Die Piepssignale von „Sputnik“aus der Erdumlaufbahn waren der Auftakt für den Wettlauf im All zwischen den verfeindeten Großmächten in Ost und West. Vier Jahre nach dem Satellitenstart katapultierte die Sowjetunion Juri Gagarin in die Höhe: der erste Mensch im Weltraum. Sein Flug überraschte sogar Maria Jarozkaja, so streng war die Geheimhaltung. „Ich wusste nicht,
Eine Monostadt, geboren in der Planwirtschaft
dass ein Mensch in dieser Rakete saß.“Aus ihren Augen spricht auch Jahrzehnte später noch Entrüstung. „Als ich es später aus dem Radio erfahren habe, war es schwer zu glauben. Aber ich kann kaum beschreiben, wie stolz wir waren.“Über Jahrzehnte blieb der Ort von Geheimnissen umweht. Um den Westen zu verwirren, hatte die SowjetFührung ihrem Weltraumbahnhof einen Tarnnamen gegeben. USFlugzeuge kreisten über der Steppe und hielten nach dem Kosmodrom Ausschau.
Maria hat verschiedene geheime Militärprojekte erlebt. Sie wuchs inKapustin Jar auf, bei einem Raketentestgelände aus den 1940er Jahren. Das Areal in der Nähe des südrussischen Stalingrad (heute Wolgograd) war ebenfalls „top secret“. Dort rüstete sich die Sowjetunion für den Kalten Krieg. Maria wurde in „Kapi-Jar“zur Technikerin ausgebildet. Doch für die immer größeren Interkontinentalraketen der jungen Atommacht wurde „KapiJar“bald zu klein. So fiel 1955 die Entscheidung, in einem Steppenstreifen am Fluss Syrdarja in der Nähe des Aralsees das „Forschungsund Testgelände Nummer fünf“zu bauen. Baikonurs heutige Konkurrenz durch Wostotschny beobachtet Maria mit Sorge. Zwar sollen die ersten bemannten Starts im Osten Sibiriens nicht vor 2023 beginnen. Aber: „Wenn in Wostotschny die gleichen Raketen starten wie hier, dann schließen sie Baikonur über kurz oder lang. Dann haben die Leute hier keine Arbeit mehr.“
Heute sind von den einst 15 Startrampen nochfünf in Betrieb. An der Rampe Nummer eins, von der 1961 Gagarin gestartet war, herrscht noch immer Hochbetrieb. Von hier wird auch die eine Sojus mit drei Raumfahrern zur ISS abheben, die vorhin durch das Stahltor gefahren wurde. Unter den Blicken hunderter Schaulustiger wird die Rakete nun mit einer surrenden Hydraulik aufgerichtet. Ein Priester segnet das Geschoss bei eisigem Wind.
In der Stadt grüßen pastellfarbene Raketenbilder von Plattenbauten. Baikonur gleicht einem Museum: Satelliten und Denkmäler von Raumfahrern prägen die Plätze. Für die Menschen in Baikonur war das Ende der UdSSR jedoch ein Wendepunkt, der den Abstieg einleitete. Das Kosmodrom lag nun aus russischer Sicht im Ausland – in Kasachstan. Die Bevölkerung schrumpfte von einst mehr als 100000 vorübergehend auf rund 50 000 Einwohner. Erst ein Vertrag zwischen beiden Staaten brachte 1994 neue Ordnung. Seitdem pachtet Moskau das Areal für rund 110 Millionen Euro. Russland verwaltet die Stadt. In den vergangenen Jahren konnte der rasante Niedergang gebremst werden. Heute hat Baikonur rund 73000 Einwohner. Die Bevölkerungsstruktur hat sich verschoben, viele Russen sind gegangen. 65 Prozent sind heute Kasachen, 35 Russen. Um das Zusammenleben zu erleichtern, gibt es russische und kasachische Schulen, Polizisten und Gerichte.
Die Alltagsprobleme der Menschen jedoch betreffen fast jeden, unabhängig von der Nationalität. Wöchentlich gibt es Ausfälle bei Strom, Wasser und Gas. Außerdem gelten strenge Reisekontrollen. Am Stadtrand erhebt sich eine Mauer aus dem Steppensand. Der Betonwall umschließt den Ort. Raus geht es nur an Kontrollstellen mit Schlagbäumen. Derzeit verlassen etwa 500 Menschen pro Jahr Baikonur für immer. Mit vergleichbaren Problemen kämpfen in Russland viele Orte: Monostädte. In der sowjetischen Planwirtschaft wurden sie auf einen Industriezweig ausgerichtet. In der heutigen Marktwirtschaft hat sich dieses Konzept überholt.
In Baikonur sind es vor allem junge und gebildete Leute, die wegwollen. Den 17-jährigen Michail zieht es fort, aber er sieht seine Zukunft in der Raumfahrt. „Ich will Raketen entwickeln“, sagt Michail. Stolz präsentiert er ein Sojus-Modell, das er gebastelt hat. „Ich will nach St. Petersburg und dort studieren. Mal sehen, in welchem Kosmodrom ich dann lande“, sagt er. Noch ist der Betrieb in Baikonur ja gesichert. Ende Dezember haben Russlands Präsident Wladimir Putin und sein
Nur hier wird noch zur ISS geflogen. Die USA zahlen
kasachischer Kollege Nursultan Nasarbajew ein Papier zur Nutzung unterzeichnet. Bis 2050 läuft der Pachtvertrag. Bis 2024 ist der Betrieb der ISS geplant. Derzeit fliegen nur von Baikonur Menschen zur Raumstation. Das macht den Ort auch für den Westen wichtig, nachdem die USA ihr Shuttle-Programm vor einigen Jahren gestoppt hatten.
Flüge zur ISS spülen Geld in leere russische Kassen. Pro Platz in einer Sojus zahlen die USA rund 70 Millionen Dollar an Roskosmos. Der Start einer Sojus ist ein Spektakel für die Sinne. Als dumpfes Klopfen schlägt die Vibration der Rakete auf die Brust. Mit der Kraft von 20 Millionen PS schießt sie in den Nachthimmel. Mächtig dröhnt es in den Ohren. Innerhalb weniger Minuten schrumpft der helle Feuerschweif zu einem roten Punkt und verschwindet im Dunkel.