Ein Jahr ohne Armela
Arbnor Segashi hat beim Münchner Amoklauf das Wichtigste in seinem Leben verloren: seine kleine Schwester. Wo er Trost gefunden hat und wie es ihm und seiner Familie heute geht
Der Täter fragt sie: Schmeckt es dir? Dann schießt er
München/Pipinsried Am 22. Juli 2016 stand Arbnor Segashi mit seiner Fußballmannschaft FC Pipinsried auf dem letzten Platz der Bayernliga Süd. Was für eine belanglose Feststellung, wenn man bedenkt, was dem jungen Mann an jenem Tag noch widerfahren sollte.
Und doch ist die Feststellung wichtig für diese Geschichte. Denn Fußball ist für Arbnor Segashi das Zweitwichtigste im Leben. Das Wichtigste hat er am 22. Juli 2016 verloren.
Segashi ist jetzt 22. Sein feingliedriges Gesicht verbirgt sich hinter einem Vollbart. Er studiert Sportmanagement an der Hochschule Erding. Seine Eltern stammen aus dem Kosovo. Vater Smajl Busfahrer, Mutter Nazmije Hausfrau. Arbnor ist das älteste Kind. Er ist in München geboren. Er ist wohlerzogen. Er liebt seine Familie und Fußball. Zur Saison 2016/17 wechselte er von Unterföhring nach Pipinsried, einem erfolgreichen Dorfverein im Landkreis Dachau.
Der 22. Juli ist ein schöner Sommertag. Arbnor ist auf dem Weg zum Auto, um von München ins rund 50 Kilometer entfernte Pipinsried zum Training zu fahren. Da erfährt er, dass das Training ausfällt. Er geht wieder zurück in die Wohnung und verbringt eine knappe Stunde mit seiner geliebten kleinen Schwester Armela, 14. Das fröhliche Mädchen verabschiedet sich dann. Sie will zum Pommes-Essen ins Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Arbnor schläft vor dem Fernseher ein. Als er aufwacht, ist seine Welt kaputt. Er weiß es aber noch nicht.
Während er döst, sitzt Armela mit ihrer Freundin Sabina im Obergeschoss des McDonald’s-Restaurants gegenüber vom OEZ. Um 17.50 Uhr steht plötzlich David S. am Tisch. „Schmeckt’s dir?“, fragt der Deutsch-Iraner. Bevor Armela antworten kann, zieht der 18-Jährige eine Pistole und schießt.
Was in den folgenden Stunden geschieht, versetzt München und ganz Deutschland in einen Schockzustand. Dieser Amoklauf brennt sich ins Gedächtnis der Stadt ein, in einer Reihe mit Ereignissen wie der Geiselnahme bei Olympia 1972 und dem Oktoberfest-Attentat 1980.
Neun Menschen sterben, fast alle sind Jugendliche mit Migrationshintergrund. David S. hat sie willkürlich ausgesucht, so steht es im Abschlussbericht der Polizei. Er soll von Mitschülern gedemütigt und geschlagen worden sein. Er hat einen Hass auf alle, die aussehen wie seine Peiniger. Daher sucht er sich Jugendliche aus, von denen er vermutet, dass sie aus Südosteuropa kommen. Der Täter erschießt sich. Armela Segashi ist ein Zufallsopfer.
München ist in Panik. Menschen flüchten zu Wildfremden. Nur we- nige Tage zuvor sind bei einem islamistischen Terroranschlag in Nizza 86 Menschen getötet worden. Nur wenige Tage zuvor hat ein Flüchtling in einem Regionalzug bei Würzburg Reisende mit einer Axt angegriffen. Erst nach quälend langen Stunden wird in München klar, dass ein psychisch gestörter Einzeltäter am Werk ist. Am Morgen danach ist die Erleichterung in der Stadt mit Händen zu greifen. Das Leben kann seinen gewohnten Gang gehen. Aber nicht für alle.
Vater Smajl Segashi ist am Vorabend gleich nach den ersten Nachrichten zum OEZ gefahren, wo er Einsatzkräfte alle paar Minuten nach seiner Tochter fragt. Arbnor fährt planlos durch die Stadt und klappert sämtliche Krankenhäuser ab. Auf Facebook bittet er um Hilfe: „Hey Leute, meine Schwester Armela war heute im OEZ. Seit dem Amoklauf haben wir nichts von ihr gehört“, schreibt er. Morgens um sechs klingelt sein Handy. Sein Vater sagt, er soll heimkommen. Es sei alles vorbei. Daheim warten Polizisten, Sanitäter und Psychologen.
Am selben Tag schreibt er in sein Facebook-Profil: „Armela – Unsere geliebte Tochter, Schwester, Freundin und in erster Linie ein geliebter Mensch ist heute durch den Amoklauf in München ums Leben gekom- men. Wir lieben dich Engel.“
Kommenden Samstag wird am OEZ eine Gedenkstätte eingeweiht. Es ist ein Ring aus poliertem Edelstahl, der halb im Boden versinkt und halb in die Höhe ragt. Auf dem sichtbaren Teil sind neun Platten befestigt. Auf den Innenseiten sind die Namen der neun Opfer eingraviert. Zu jedem gibt es ein Foto. „Eigentlich hasse ich diesen Ort, aber es ist der letzte Ort, wo sie war“, sagt Arbnor Segashi in der
ZDF-Dokumentation „Schatten des Verbrechens“von Gunnar Mergner und Carsten Frank. Wo soll Arbnor mit seiner Trauer auch sonst hin? Armela ist in der Heimat, im Kosovo, begraben. 15 000 Menschen sind zur Beerdigung gekommen.
Die Familie ist noch immer wie gelähmt vor Schmerz. Das zeigt die Sendung. Vater Smajl will die mühsam ersparte Drei-Zimmer-Wohnung verkaufen, weil ihn darin zu viel an die geliebte Tochter erinnert. Mutter Nazmije wirkt wie versteinert. Die ältere Schwester Arberia versucht, sich in ihrer Ausbildung zur zahntechnischen Fachangestellten abzulenken. Es klappt nicht so recht. „Armela war nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin“, sagt sie. Und Arbnor?
Er lässt sein Studium ruhen, um den Eltern beim Schriftverkehr mit Behörden zu helfen. Die Stadt hilft bei der Suche nach einer Wohnung. Das Opferentschädigungsgesetz verspricht den Segashis Hilfe, den Papierkrieg müssen sie aber selbst bewältigen. Der Papa schafft es nicht, er ist dauerhaft arbeitsunfähig. Arbnor ist nach dem Amoklauf zum Familienoberhaupt geworden. Er wirkt gereift. Sein Trainer sagt: „Er ist erwachsen geworden.“
Nach Ansicht von Trauma-Therapeuten macht der 22-Jährige vieles richtig in der Bewältigung seines Schmerzes. Er hält die Balance zwischen Trauer und Alltag. Er jobbt in einer Shisha-Bar, trifft sich mit Freunden, spielt Fußball. Mannschaft und Funktionäre des FC Pipinsried haben ihm sehr geholfen, erzählt Arbnor im Film. Das Team sei zusammengewachsen. Man könnte jetzt viel herumpsychologisieren. Man kann aber auch einfach nur sachlich beschreiben, was andere als Fußballwunder bezeichnen.
Kurz nach Armelas Tod startet die Truppe eine Serie von 14 Siegen in Folge. Sie schafft den Aufstieg in die Regionalliga. Der FC Pipinsried spielt mit Arbnor Segashi nun in einer Liga mit dem TSV 1860 München sowie den zweiten Mannschaften des FC Bayern und des FC Augsburg. „Die Freude ist riesig“, sagt Segashi dem Sender Dachau
TV. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Dabei kann Arbnor inzwischen auch weinen. Er tut das, wenn er von seiner Schwester erzählt: „Sie hat den Laden zusammengehalten. Ich denke jede Minute an sie.“Arbnor hat erkannt, dass sein Leben weitergeht, weitergehen muss. Er hat bald danach offen gesprochen, sogar im Fernsehen. Seine Mutter will, dass die Tat nicht in Vergessenheit gerät. Über den Täter spricht er nie. David S. soll keinen Platz in seinem Leben einnehmen. Arbnor kann wieder lachen. Doch die Trauer ist da.
Das muss so sein, sagt TraumaExperte Peter Zehentner. Trauer brauche Zeit. Zehentner leitet das Kriseninterventions-Team des Arbeiter-Samariter-Bundes in München. Seine Kollegen waren dabei, als die Familie Segashi vom Tod ihrer Tochter erfahren hat. „Trauer dauert oft mindestens ein Jahr. Erst dann sind solche einschneidenden Tage wie ,erstes Weihnachten ohne sie‘ oder ,erster Geburtstag ohne sie‘ vorbeigegangen“, sagt Zehentner. Das Problem: Der Druck von außen ist groß. „Wir leben in einer schnelllebigen Gesellschaft. Viele denken, das muss doch nach zwei Wochen wieder gut sein.“Diesem Druck muss man standhalten. Was hilft, ist bei jedem Menschen anders. Der Experte rät: Soziale Kontakte aufrechterhalten, Erinnerungen an schöne Zeiten pflegen, aber auch Auszeiten von der Trauer nehmen. „Manche halten es oft für pietätlos, wenn solche Menschen mit Freunden Sport treiben oder mit der Familie zu einer Feier gehen, aber das ist ganz wichtig, ist positiver Alltag“, sagt Peter Zehentner.
Auch die Münchner Polizei hat den Amoklauf aufgearbeitet. Es war ein Ausnahme-Ereignis: 2300 Beamte waren im Einsatz. 4310 Notrufe wurden abgesetzt, normal sind etwa 2000 in 24 Stunden. Die Polizei wurde an jenem Abend zu 74 Einsatzorten gerufen. „Davon waren 73 Fehlalarme. Wir sprechen hier von Phantom-Tatorten“, sagt Marcus da Gloria Martins, der wegen seiner besonnenen Auftritte in der Amoknacht selbst zu einer Berühmtheit wurde. 71 Schießereien wurden gemeldet. Es gab nur eine. Aber das konnten die Beamten zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. „Die sozialen Netzwerke waren das Tüpfelchen auf dem i. Schlimmer waren die Messenger-Dienste, allen voran WhatsApp. Da haben sich ganz viele Gerüchte rasend schnell ausgebreitet“, sagt da Gloria Martins.
Es dauerte Stunden, bis klar war, dass es sich um keinen Terroranschlag handelte und nur ein Täter unterwegs war. Trotz allem bewertet Martins den Einsatz nicht negativ: „Der Einsatz ist unter den vorliegenden, komplexen Rahmenbedingungen gut gelaufen, alternative Einsatzstrategien waren nicht möglich.“Dennoch war er „Anlass für intensivste Nachbetrachtungen“, sagt der Polizeisprecher. „Wir sind da selbstkritisch.“Der neue eigene Messenger-Dienst der Polizei zum Beispiel habe seinen Ursprung im OEZ-Amoklauf. Oder die neue, verbesserte Schutzausrüstung gegen Schusswaffen inklusive Helm.
Arbnor Segashis „Nachbearbeitung“sieht anders aus. Sie ist nicht systematisch. Wie auch? Er versucht klarzukommen und macht instinktiv vieles richtig. „Es ist wichtig, den Leuten zu vermitteln, was das Leben auch nach so einem Schicksalsschlag lebenswert sein lässt“, sagt Trauma-Experte Peter Zehentner. So wie es aussieht, kriegt Arbnor das ganz ordentlich hin.
Es wird Rückschläge geben. Armela war bei jedem Fußballspiel dabei. „Ihre Anwesenheit war pures Glück“, sagt er. Am 25. Juli bestreitet der FC Pipinsried sein erstes Saisonspiel. Ohne Armela. Doch Arbnors Familie, die Freunde und die Mannschaft – sie werden da sein.
Welche Konsequenzen die Polizei gezogen hat