K!ar.Text Unterricht auf hoher See
Statt im Klassenzimmer zu sitzen, verbrachte der 15-jährige Markus Radlmayr aus Friedberg sieben Monate auf einem Segelboot. An Bord lernte er neben den klassischen Schulfächern auch den rauen Schiffsalltag kennen
Friedberg Der Wind peitscht über das Meer. Etwas wackelig, aber gesichert stehe ich am Ruder des Segelboots. Einige meiner Mitschüler hängen kreidebleich über der Rehling, während andere unter Deck gerade Sinus und Cosinus lernen. Wilde Fantasie oder Realität?
Für mich Realität. Zusammen mit 34 anderen verbrachte ich sieben Monate der zehnten Klasse Gymnasium auf einem Segelschiff. „Klassenzimmer unter Segeln“heißt das Forschungsprojekt, das die Uni Erlangen-Nürnberg jedes Jahr startet. Von Oktober bis April lernte ich neben den klassischen Schulfächern fremde Länder und den rauen Schiffsalltag kennen.
Ich war von Anfang an begeistert von der Idee. Es roch nach Abenteuer und Grenzen ausloten. Die Chancen auf einen Platz waren gering, doch ich bewarb mich und erhielt tatsächlich die Zusage. Schon die Vorbereitungen waren ein Abenteuer. Vom biologisch abbaubaren Shampoo bis hin zur namentlichen meiner persönlichen Sachen musste alles organisiert werden. Mein erster Gedanke, als ich das Segelschiff zum ersten Mal am Pier in Kiel liegen sah: „Mit diesem kleinen Ding soll ich durch die Welt segeln?“. Knapp 50 Meter lang und sechseinhalb Meter breit – ein stolzer Dreimaster, aber im Vergleich zum Atlantik eine Nussschale.
Genau wie ich hatten die meisten zu Beginn des Törns keine Ahnung vom Segeln. Doch unser Trupp, darunter Jugendliche aus Deutschland, der Schweiz und Brüssel, lernte schnell. Begriffe wie Tampen, Besan, Block oder das Aufentern im Rigg gehörten bald zu unserem Wortschatz. Dafür sorgte ein durchgetakteter Tagesablauf, der uns einiges an Disziplin abverlangte. Täglich sechs Stunden Wache, mal Putzen oder Küchendienst, dazu Unterricht in Segeltheorie und Schifffahrtskunde. Ganz nach dem Motto unserer Projektleiterin Ruth Merk: „Der Törn ist zu neunzig Prozent Arbeit und zehn Prozent Spaß.“
191 Tage lang eroberten wir Jugendlichen mit unseren Begleitern die Welt. Über Falmouth, Teneriffa und Grenada ging es nach Panama, von dort nach Kuba und über die Bermudas, Azoren und London zurück nach Kiel. 191 Tage machten aus dem bunt zusammengewürfelten Haufen eine zweite Familie. Nach einer Woche auf Teneriffa wurde es spannend. Die Atlantiküberquerung stand an. Denn damit waren wir auf uns allein gestellt, wenn das Meer tobte. Mehr als einmal ging jemand über Bord, doch sie landeten zum Glück jedes Mal in den Fangnetzen, die rund um den Dreimaster gespannten waren.
Mit der Überquerung des Atlantik begann für uns der Unterricht. Sieben Monate bayerischer Lehrplan im Hauruckverfahren. Fünf Lehrer waren mit an Bord. Während die eine Gruppe zehn Stunden büffelte, war die andere für das Schiff verantwortlich. Im Gegensatz zum normalen Schulalltag war der Unterricht sehr praxisnah. Egal ob in Mathe, Physik oder Biologie, das Schiff und die Landaufenthalte boten reichlich Gelegenheit, alles hautnah zu lernen. Nach über drei WoEtikettierung chen hieß es „Land in Sicht“und wir konnten ein paar Tage in einem Riff bei den Tobacco Cays schnorcheln und den Traumstrand genießen. Danach ging es weiter Richtung Panama. Inzwischen nahte Weihnachten. Das wollten wir eigentlich auf hoher See feiern, doch das Wetter spielte nicht mit.
Erst in Panama feierten wir Heilig Abend nach. Dort hatten wir für drei Wochen festen Boden unter den Füßen. Wir unternahmen kleine Touren, besuchten eine spanische Sprachschule und wohnten bei Gastfamilien. Den Artenreichtum des Regenwaldes erlebten wir bei einer mehrtägigen Expedition zu Fuß und einem Aufenthalt bei den NasoIndianern. Ich probierte lebende Termiten, in Wasser gekochte Schnecken und löschte meinen Durst mit dem Wasser aus Lianen. Eine Überraschung boten die Duschen, denn man war sich nie sicher, ob Kakerlaken oder Wasser auf einen niederprasselten. Danach erreichten wir Kuba, das wir auf mitgebrachten Fahrräder erkundeten.
Wieder zurück auf dem Segelboot stand die Schiffsübergabe an. Die Crew trat zurück und überließ uns Jugendlichen die Verantwortung über das Schiff. Ohne GPS, nur mithilfe der Sterne navigieren – das war meine Aufgabe auf dem Weg zu den Bermudainseln. Es brachte mich physisch und psychisch an meine Grenzen.
Über die Azoren näherten wir uns dem letzten Höhepunkt unserer Reise. Dem Tall-Ship-Race bei London. Diese Langstreckenregatta lässt jedes Seglerherz höherschlagen. Es ist beeindruckend, all die herrlich geschmückten Segelschiffe zu sehen und selbst Teil der Parade zu sein. Und dann kam das letzte Ziel: Kiel.
Ich war überglücklich, meine Familie wiederzusehen und gleichzeitig todtraurig über das Ende der einzigartigen Reise. Wenn mich jemand fragt, wie es war, antworte ich, ohne zu zögern: „Ich würde sofort wieder mitfahren.“
Projekt Weitere Infos über das Projekt „Klassenzimmer unter Segeln“findet ihr unter www.kus projekt.de.