Die Frau auf der Treppe
Vielleicht sehen Sie das Bild eines Tages. Lange verschwunden, plötzlich aufgetaucht – alle Museen werden es zeigen wollen. Karl Schwind ist derzeit nun einmal der berühmteste und teuerste Maler weltweit. Als sein siebzigster Geburtstag war, begegnete er mir in allen Blättern und auf allen Kanälen. Allerdings musste ich lange hinschauen, bis ich im alten Mann den jungen wiedererkannte.
Das Bild erkannte ich sofort wieder. Ich betrat den letzten Hof der Art Gallery, und da hing es und berührte mich wie damals, als ich den Salon des Hauses Gundlach betrat und das Bild zum ersten Mal sah.
Eine Frau kommt eine Treppe herab. Der rechte Fuß tritt auf die
untere Stufe, der linke berührt noch die obere, setzt aber schon zum nächsten Schritt an. Die Frau ist nackt, ihr Körper blass, Schamhaar und Haupthaar sind blond, das Haupthaar glänzt im Schein eines Lichts. Nackt, blass, blond – vor einem graugrünen Hintergrund verschwommener Treppenstufen und -wände kommt die Frau dem Betrachter mit schwebender Leichtigkeit entgegen. Zugleich hat sie mit ihren langen Beinen, runden, vollen Hüften und festen Brüsten sinnliche Gewichtigkeit.
Ich ging langsam auf das Bild zu. Ich war verlegen, auch das wie damals. Damals war ich verlegen, weil mir die Frau, die mir am Tag davor in meinem Büro in Jeans, Top und Jacke gegenübergesessen hatte, im Bild nackt gegenübertrat. Jetzt war ich verlegen, weil mich das Bild an das erinnerte, was damals geschehen war, worauf ich mich damals eingelassen und was ich alsbald aus meinem Gedächtnis verbannt hatte.
„Frau auf einer Treppe“stand auf dem Schild neben dem Bild und dass es sich um eine Leihgabe handele. Ich fand den Kurator und fragte ihn, wer das Bild der Art Gallery geliehen habe. Er sagte, er dürfe den Namen nicht nennen. Ich sagte, ich kenne die Frau auf dem Bild und den Eigentümer des Bilds und könnte ihm voraussagen, dass es Streit um das Eigentum am Bild geben werde. Er runzelte die Stirn, blieb aber dabei, er dürfe den Namen nicht nennen.
Mein Rückflug nach Frankfurt war für Donnerstagnachmittag gebucht. Nachdem die Verhandlungen in Sydney am Mittwochvormittag abgeschlossen waren, hätte ich auf Mittwochnachmittag umbuchen können. Aber ich wollte den Rest des Tags im Botanischen Garten verbringen.
Ich wollte dort zu Mittag essen, im Gras liegen und am Abend im Opernhaus Carmen hören. Ich mag den Botanischen Garten, an den im Norden eine Kathedrale und im Süden das Opernhaus grenzen, in dem die Art Gallery und das Konservatorium stehen und von dessen Hügeln der Blick auf die Bucht geht. Der Garten hat einen Palmen-, einen Rosen- und einen Kräutergarten, Teiche, Lauben, Statuen und viel Rasen mit alten Bäumen, Großeltern mit Enkelkindern, einsamen Frauen und Männern mit ihren Hunden, Gruppen beim Picknick, Liebespaaren, Lesenden, Schlafenden. Auf der Loggia des Restaurants in der Mitte des Gartens ist die Zeit stehengeblieben: alte eiserne Säulen, ein altes eisernes Geländer und ein Blick in Bäume mit Flughunden und auf einen Brunnen mit Vögeln mit buntem Gefieder und langen krummen Schnäbeln.
Ich bestellte das Essen und rief meinen Kollegen an. Er hatte den Unternehmenszusammenschluss auf australischer Seite vorbereitet, ich auf deutscher. Wir waren, wie das bei Unternehmenszusammenschlüssen ist, sowohl Partner als auch Gegner. Aber wir waren im gleichen Alter, beide Senior einer der letzten großen Kanzleien, die noch nicht von Amerikanern oder Engländern übernommen sind, beide Witwer und mochten uns. Ich fragte ihn nach der Detektei, deren sich seine Kanzlei bediente, und er nannte sie mir.
„Gibt es ein Problem, bei dem wir helfen können?“
„Nein, nur eine alte Neugier, die ich befriedigen möchte.“
Ich rief die Detektei an. Wem das Bild von Karl Schwind in der Art Gallery of New South Wales gehöre, ob einer Irene Gundlach oder einer Irene ehemals Gundlach und ob eine Frau dieses Namens in Australien lebe. Der Chef der Detektei hoffte, es mir in ein paar Tagen sagen zu können. Ich bot eine Prämie, wenn er es mir am nächsten Morgen sagen würde. Er lachte. Entweder er komme bei der Art Gallery heute an die Informationen oder es dauere ein paar Tage, Prämie hin, Prämie her. Er werde sich melden.
Dann kam das Essen, und zum Essen bestellte ich eine Flasche Wein, die ich nicht austrinken wollte und doch austrank. Manchmal wachten die Flughunde auf, alle zugleich, flogen rauschend aus den Ästen und um die Bäume, hängten sich wieder in die Äste und hüllten sich wieder in ihre Flügel. Manchmal stieß einer der bunten Vögel am Brunnen einen Schrei aus. Manchmal schrie auch ein Kind oder bellte ein Hund oder klang das Reden einer Gruppe von Japanern wie das Zwitschern eines Vogelschwarms zu mir herüber. Manchmal hörte ich nur das Zirpen der Zikaden.
Am Hang unterhalb des Konservatoriums legte ich mich ins Gras. In meinem Anzug – die Vorstellung, später in einem knittrigen, vielleicht fleckigen Anzug herumzulaufen, die mich sonst geschreckt hätte, schreckte mich nicht. Dann wurde mir auch gleichgültig, was mich in Deutschland erwartete. Es gab nichts, auf das ich nicht verzichten konnte, nichts, bei dem man nicht auf mich verzichten konnte. Bei allem, was vor mir lag, war ich ersetzbar. Nicht ersetzbar war ich nur bei dem, was hinter mir lag.
Eigentlich hatte ich nicht Rechtsanwalt werden wollen, sondern Richter. Ich hatte die entsprechende Examensnote, wusste, dass Richter gesucht wurden, war bereit, dahin zu ziehen, wo man mich brauchte, und hielt das Einstellungsgespräch im Justizministerium für eine Formalie. Es war an einem Nachmittag.
Der Personalreferent war ein alter Herr mit gütigen Augen. „Sie haben mit siebzehn Abitur gemacht, mit einundzwanzig das erste und mit dreiundzwanzig das zweite Ex– amen – ich hatte noch nie einen so jungen und selten einen so guten Bewerber.“
Ich war stolz auf meine guten Noten und meine jungen Jahre. Aber ich wollte einen bescheidenen Eindruck machen. „Ich wurde vorzeitig eingeschult, und die Umstellungen beim Schulbeginn, einmal von Frühjahr auf Herbst und dann noch mal von Herbst auf Frühjahr, haben zwei halbe Jahre gebracht.“
Er nickte. „Zwei geschenkte halbe Jahre. Ein weiteres geschenktes halbes Jahr, weil Sie nach dem ersten Examen nicht warten mussten, sondern sofort Referendar wurden. Sie haben eine Menge Zeit gut.“„Ich verstehe nicht…“
»1. Fortsetzung folgt