Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (31)
WNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
enn jeder, der es behauptete, tatsächlich sexuell aktiv gewesen wäre, dann hätte man ja in ganz Hailsham nichts anderes gesehen als lauter Paare, die fröhlich zugange waren, links, rechts und in der Mitte.
Ich erinnere mich, dass zwischen uns allen eine Art Übereinkunft bestand, uns gegenseitig nicht zu sehr auszuhorchen oder zu bedrängen. Wenn wir zum Beispiel über ein Mädchen redeten und Hannah die Augen verdrehte und „Jungfrau“murmelte – was hieß: „Das gilt natürlich nicht für uns, aber sie ist eine, was wollt ihr also erwarten?“– dann durfte man sie auf keinen Fall fragen: „Mit wem hast du’s getan? Wann? Wo?“, sondern man nickte bloß wissend. Es war, als gäbe es irgendwo ein Paralleluniversum, in das wir alle verschwanden, um uns endlosem Sex hinzugeben.
Um diese Zeit muss ich erkannt haben, dass sich hinter dieser ganzen Prahlerei ringsum nicht viel verbarg. Als der Sommer nahte, kam
ich mir dennoch allmählich vor wie die Einzige, die nicht dazugehörte. In gewisser Weise war Sex an die Stelle des Zwangs zum „KreativSein“getreten, der uns ein paar Jahre früher beherrscht hatte: Wenn man es noch nicht getan hatte, wurde es jetzt allerhöchste Zeit, endlich damit anzufangen. Und mein Fall war zusätzlich kompliziert, weil zwei meiner engsten Freundinnen tatsächlich ihre ersten Erfahrungen gesammelt hatten. Laura mit Rob D., obwohl die beiden nie ein richtiges Paar gewesen waren. Und Ruth mit Tommy.
Ich aber hatte es ewig vor mir hergeschoben, indem ich mir Miss Emilys Rat vorsagte – „Wenn ihr niemanden findet, mit dem ihr diese Erfahrung wirklich teilen wollt, dann tut es nicht!“–, aber im Frühling des Jahres, von dem ich jetzt erzähle, dachte ich immer öfter, dass ich nichts dagegen hätte, mit einem Jungen zu schlafen. Nicht nur, um zu erfahren, wie es ist, sondern auch, weil mir einfiel, dass ich mich ja damit vertraut machen müsste und dass es nicht schlecht wäre, zuerst mit einem Jungen zu üben, der mir nicht so wichtig war. Dann hätte ich später, wenn ich mit jemand Besonderem zusammen wäre, bessere Chancen, alles richtig zu machen. Was ich sagen will: Wenn Miss Emily Recht hatte und Sex tatsächlich diese Wahnsinnssache zwischen zwei Menschen war, dann sollte mein erstes Mal nicht ausgerechnet dann sein, wenn es so sehr darauf ankam, ob es gut ging oder nicht.
Aus mehreren Gründen hatte ich Harry C. ins Auge gefasst. Erstens wusste ich sicher, dass er es schon getan hatte, und zwar mit Sharon D. Zweitens war ich zwar nicht gerade hingerissen von ihm, aber ich fand ihn auch keineswegs abstoßend. Drittens war er ruhig und diskret, und falls es ein Fiasko werden sollte, würde er es nachher nicht überall herumerzählen. Und schließlich hatte er selbst schon ein paarmal angedeutet, dass er nichts dagegen hätte. Okay, die meisten Jungs schäkerten damals mit uns, aber inzwischen war uns schon klar, was ein ernsthaftes Angebot und was bloß Machogehabe war.
Dass es Harry werden sollte, stand also fest, und ich hatte die Sache nur deshalb noch ein paar Monate hinausgeschoben, weil ich sichergehen wollte, dass körperlich alles in Ordnung war. Miss Emily hatte gesagt, wenn wir nicht feucht genug würden, könnte es schmerzhaft und ein ziemlicher Misserfolg werden, und das war meine einzige wirkliche Sorge. Man wollte dort unten ja nicht auseinandergerissen werden, wie wir untereinander oft witzelten, was aber die geheime Furcht nicht weniger Mädchen war. Ich sagte mir immer wieder, solange ich rasch genug feucht würde, wäre alles kein Problem, und ich experimentierte viel mit mir allein, einfach um auf Nummer Sicher zu gehen.
Mir ist klar, dass sich das jetzt etwas obsessiv anhört; in der Tat verbrachte ich viel Zeit damit, einschlägige Passagen in entsprechenden Büchern nachzulesen. Immer wieder studierte ich die entscheidenden Stellen, in der Hoffnung, Erkenntnisse zu gewinnen. Leider war die Bibliothek in Hailsham nicht besonders hilfreich. Dort fand sich viel Literatur aus dem neunzehnten Jahrhundert, von Thomas Hardy und ähnlichen Schriftstellern, die für meine Zwecke mehr oder minder nutzlos war. Ein paar modernere Bücher – Edna O’Brien und Margaret Drabble zum Beispiel – enthielten zwar Sexszenen, aber was da genau passierte, war nie so recht klar, weil die Autoren immer davon ausgingen, dass die Leser schon jede Menge Erfahrung hätten, weshalb es nicht nötig sei, ins Detail zu gehen. Die Lektüre dieser Bücher war also eher frustrierend, und mit den Videos verhielt es sich auch kaum anders. Seit ein paar Jahren stand ein Videorekorder im Billardzimmer, und bis zu diesem Frühjahr hatten wir schon eine ganz nette Filmkollektion beisammen. In vielen Filmen kamen Sexszenen vor, aber entweder hörten sie ausgerechnet dann auf, wenn der Sex anfing, oder man sah nur Gesichter und Rücken. Und wenn tatsächlich mal eine hilfreiche Szene kam, konnte man sie allenfalls flüchtig betrachten, weil in der Regel noch zwanzig andere mitschauten. Inzwischen hatten wir zwar den Brauch eingeführt, dass bestimmte Lieblingsszenen wiederholt wurden – zum Beispiel wenn der Amerikaner in Gesprengte Ketten mit dem Motorrad über den Stacheldraht hinwegsetzt: Dann ertönte ein Sprechchor: „Zurückspulen, zurückspulen!“, bis jemand die Fernsteuerung fand, und wir sahen die Szene von vorn, auch drei- oder viermal hintereinander. Aber ich hätte wohl kaum als Einzige die Wiederholung einer Sexszene verlangen können.
Also schob ich es Woche um Woche vor mir her, während ich mich weiter den Vorbereitungen widmete, bis der Sommer da war und ich den Eindruck hatte, bestens vorbereitet zu sein. Inzwischen war ich sogar einigermaßen selbstsicher geworden und begann Harry gegenüber Andeutungen fallen zu lassen. Alles lief bestens und planmäßig, bis Ruth und Tommy sich verkrachten, was für große Verwirrung sorgte.
Kapitel 9
Ein paar Tage, nachdem Ruth und Tommy sich getrennt hatten, saß ich mit ein paar anderen Mädchen im Zeichensaal und arbeitete an einem Stillleben. Es war heiß und schwül, das weiß ich noch, obwohl hinter uns der Ventilator lief. Wir zeichneten mit Kohle, und weil irgendwer sämtliche Staffeleien beschlagnahmt hatte, mussten wir das Zeichenbrett auf dem Schoß halten. Meine Nachbarin war Cynthia E.; wir plauderten miteinander, beschwerten uns über die Hitze, kamen irgendwie auf das Thema Jungen, und sie sagte, ohne von ihrer Zeichnung aufzublicken:
„Und Tommy. War mir klar, dass es mit Ruth nicht lang gut gehen würde. Du bist dann wohl die logische Nachfolgerin, wie?“
Das sagte sie so dahin. Aber Cynthia war eine aufmerksame Person, und dass sie nicht zu unserer Gruppe gehörte, verlieh ihrer Bemerkung besonderes Gewicht.