Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (43)
INur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Kapitel 12
ch möchte von unserer Fahrt nach Norfolk erzählen und von den vielen Ereignissen an diesem Tag, aber dazu muss ich erst ein bisschen ausholen, damit Sie die Hintergründe kennen und verstehen, weshalb wir dorthin fuhren.
Inzwischen hatten wir unseren ersten Winter fast hinter uns, und wir waren alle mehr oder weniger heimisch geworden. Trotz unserer vielen kleinen Missverständnisse hatten Ruth und ich an unserer Gewohnheit festgehalten, den Tag mit heißem Tee in meinem Zimmer zu beschließen und miteinander zu reden. Bei einer dieser Sitzungen, als wir über irgendwas herumalberten, sagte sie unerwartet:
„Du hast sicher auch gehört, was Chrissie und Rodney erzählt haben?“
Ich verneinte, und sie lachte kurz und fügte hinzu: „Wahrscheinlich nehmen sie mich bloß auf den Arm.
Ihre Art von Humor. Vergiss es.“Aber sie wollte, dass ich es aus ihr herauskitzelte, das war sonnenklar, und deshalb bedrängte ich sie so lange, bis sie mir schließlich mit gesenkter Stimme anvertraute:
„Du weißt doch, Chrissie und Rodney sind letzte Woche weggefahren. Sie waren in dieser Stadt namens Cromer, oben an der Küste von Norfolk.“
„Was haben sie dort getan?“„Och, sie haben wohl einen Freund dort, jemand, der früher auch hier gewohnt hat. Aber darum geht’s nicht. Es geht darum, dass sie behaupten, sie hätten diese… Person gesehen. Sie arbeitet dort im Büro, in einem Großraumbüro. Und, na ja, du weißt schon. Sie glauben, dass diese Person eine Mögliche ist. Für mich.“
Die Idee von „Möglichen“war den meisten von uns schon in Hailsham zum ersten Mal begegnet, wir hatten aber schon damals gespürt, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn wir darüber spekulierten, und hatten es also unterlassen – ganz sicher aber hatte uns der Gedanke fasziniert und verstört zugleich. Und selbst in den Cottages war es kein Thema, das man beiläufig in die Runde werfen konnte. Jedem Gespräch über Mögliche haftete eindeutig mehr Peinlichkeit an als etwa Unterhaltungen über Sex. Gleichzeitig war klar, dass die Leute begeistert waren – geradezu besessen in manchen Fällen –, und deshalb kehrte das Thema immer wieder, meist in ernsten Auseinandersetzungen, die Welten entfernt waren von unseren Diskussionen beispielsweise über James Joyce.
Der Grundgedanke hinter der Möglichen-Theorie war einfach und gab kaum Anlass zu Auseinandersetzungen. Er lautete ungefähr so: Da jeder von uns zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem normalen Menschen kopiert worden war, musste es für jeden von uns irgendwo dort draußen eine Vorlage geben, ein Modell, das ganz normal sein Leben führte. Das hieß, man müsste die Person, der man nachgebildet worden war, auch finden können, zumindest theoretisch. Wenn wir also selbst draußen unterwegs waren – in Städten, in Einkaufszentren, in Raststätten –, hielten wir insgeheim immer Ausschau nach „Möglichen“– den Menschen, die für uns und unsere Freunde die Vorlage gewesen sein könnten.
Doch abgesehen von diesem Grundkonsens gingen die Meinungen stark auseinander. Wir konnten uns ja nicht mal darauf einigen, wonach wir eigentlich suchten, wenn wir uns nach Möglichen umsahen. Manche dachten, wir sollten nach Personen Ausschau halten, die zwanzig, dreißig Jahre älter als wir waren, deren Altersunterschied zu uns also etwa so groß wie bei normalen Eltern wäre. Andere fanden das sentimental und fragten, warum es einen „natürlichen“Generationenwechsel zwischen uns und unseren Modellen geben sollte. Sie hätten Babys nehmen können oder alte Leute, es hätte doch keinen Unterschied gemacht. Woraufhin die erste Fraktion wieder einwandte, dass sie bestimmt Menschen auf der Höhe ihrer körperlichen Kraft und Gesundheit als Modelle benutzt hätten, die deshalb jetzt sehr wahrscheinlich das Alter „normaler Eltern“haben müssten. Aber ungefähr hier spürten wir alle, dass wir uns einem Gelände näherten, das wir nicht betreten wollten, und die Diskussion verlief im Sand.
Und schließlich stellte sich natürlich die Frage, warum wir überhaupt unsere Vorlagen aufspüren wollten. Eine große Hoffnung war mit der Suche nach dem Modell verbunden, nämlich dass man vielleicht, falls man es fand, einen Blick in die eigene Zukunft werfen könnte. Natürlich glaubte keiner von uns ernsthaft, dass er, wenn sich die Vorlage beispielsweise als Bahnangestellter erwies, ebenfalls bei der Bahn arbeiten würde. Natürlich war uns klar, dass es nicht so einfach war.
Trotzdem glaubten wir alle, in unterschiedlichem Ausmaß, dass wir zumindest irgendeine Erkenntnis über uns und unser wahres Ich gewännen, wenn wir die Person, von der wir kopiert worden waren, mit eigenen Augen sähen, und dass wir vielleicht auch eine Ahnung davon bekämen, was das Leben für uns noch bereithielt.
Manche fanden es dumm, sich überhaupt über Mögliche den Kopf zu zerbrechen. Sie sagten, unsere Modelle seien völlig unwichtig, sie bildeten einfach nur die technische Voraussetzung unserer Existenz, nichts weiter, und es sei an jedem Einzelnen von uns, das Beste aus seinem Leben zu machen. Das war die Auffassung, zu der sich Ruth stets bekannt hatte und ich wahrscheinlich ebenfalls. Dennoch weckte jeder Bericht über einen Möglichen – egal, wen er betraf – unwiderstehliche Neugier.
Nach meiner Erinnerung trafen Nachrichten über gesichtete Mögliche häufig schubweise ein. Es konnten Wochen vergehen, ohne dass jemand das Thema erwähnte, und plötzlich kam eine Meldung, die eine ganze Flut weiterer auslöste. Die meisten waren es natürlich nicht wert, dass man ihnen nachging: Jemand war in einem vorbeifahrenden Auto gesehen worden, so was in der Art. Aber gelegentlich schien an einem Bericht etwas dran zu sein – wie in dem Fall, von dem Ruth mir an jenem Abend erzählte.
Chrissie und Rodney, sagte Ruth, hätten diese Stadt am Meer, in die sie gefahren seien, ausgiebig erkundet, seien eine Weile sogar getrennte Wege gegangen. Als sie sich wieder trafen, berichtete Rodney berstend vor Aufregung, er sei durch die Seitengassen parallel zur Hauptstraße gewandert und an einem Bürogebäude mit einer riesigen Glasfront vorbeigekommen. Darin seien viele Leute gewesen, manche am Schreibtisch sitzend, andere wären hin und her gegangen und hätten geplaudert. Und dort habe er Ruths Mögliche entdeckt.
„Chrissie ist sofort zu mir gekommen, nachdem sie wieder zurückkehrten, und hat es mir erzählt. Sie ließ Rodney alles ganz genau beschreiben, und er versuchte es zwar, konnte aber beim besten Willen nichts Genaueres sagen.