Methadon: ein Wundermittel gegen Krebs?
Eine Chemikerin aus Ulm entdeckt zufällig, dass der Drogenersatzstoff Tumorzellen abtötet. Und stellt zudem fest, dass das Mittel besonders gut in Kombination mit einer Chemotherapie hilft. Sie möchte, dass das mit Studien belegt wird. Und an dieser Stell
Frau Dr. Friesen, Sie sind inzwischen bundesweit bekannt durch eine etwas ungewöhnlich wirkende Methode der Krebsbehandlung. Sie kombinieren Chemotherapie mit dem Einsatz von Methadon. Es ist vor allem bekannt dadurch, dass man es Heroinsüchtigen als Ersatzstoff gibt. Wie kamen Sie ausgerechnet auf die Kombination Methadon und Chemotherapie?
Dr. Claudia Friesen: Das war Zufall. Ich habe hier am Ulmer Institut für Rechtsmedizin Grundlagenforschung für Drogen – dazu zählen auch Opioide – betrieben. Opioide haben morphinartige Eigenschaften. Zu ihnen gehören auch die Opiate, die an Opioidrezeptoren binden. Dabei haben wir festgestellt, dass viele Tumorzellen sehr viele Opioidrezeptoren auf der Oberfläche besitzen. Somit können Opioide an diese Tumorzellen andocken und auch wirken. Im Gegensatz zu Tumorzellen haben gesunde Zellen keine oder eine geringe Anzahl an Opioid-Rezeptoren.
Friesen: Ich habe 2007 die Leukämiezellen, die Opioidrezeptoren auf der Zelloberfläche besitzen, in einer Kultur mit allen möglichen Opioiden behandelt, zum Beispiel Morphium, Heroin – und auch Methadon. Was das Besondere war: Bei der Behandlung der Leukämiezellen mit Methadon sind die Leukämiezellen immer wieder gestorben. Wir haben diese Versuche mehrfach wiederholt und kamen immer wieder zum gleichen Ergebnis.
Was fanden Sie noch heraus? Friesen: Dass Methadon Krebszellen zerstören kann, wenn sich auf ihrer Oberfläche eine sehr hohe Opioidrezeptorendichte befindet. Die meisten Tumorzellen haben leider nur eine moderate Anzahl der Opioidrezeptoren auf der Zelloberfläche. Da reicht Methadon allein nicht aus, um eine Tumorzelle zu zerstören. Aber Methadon kann Krebszellen für Chemotherapien erheblich sensibler machen. Gesunde Zellen dagegen bleiben verschont. Diese Ergebnisse haben wir in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht.
Welche Mechanismen spielen dabei eine Rolle?
Friesen: Ganz laienhaft gesagt: Tumorzellen sind sozusagen schlau. Viele können sich dadurch gegen ein Chemotherapeutikum wehren, indem sie es wieder aus ihrer Zelle herauspumpen. Dann stellten wir fest: Wenn man noch Methadon dazugibt, dann neigen viele Tumorzellen dazu, das Chemotherapeutikum eben nicht herauszupumpen. Methadon blockiert diese Pumpen. Dann kann das Chemotherapeutikum stärker wirken und die Krebszelle stirbt.
Wie wirkt Methadon noch?
Friesen: Ein weiterer Mechanismus, den Methadon beeinflussen kann, ist die Apoptose, der sogenannte programmierte Zelltod. Leider ist dieser Zelltod in vielen Tumorzellen durch Blockaden gestört. Methadon kann diese Blockaden beseitigen und die Chemotherapie die Krebszellen wieder zerstören.
Wie kann man sich das vorstellen? Friesen: Man kann sich den Zelltod wie das Fallen von Dominosteinen vorstellen. Im Idealfall gibt man ein Chemotherapeutikum – und es fallen alle Dominosteine um. Leider ist das aber bei vielen Tumorzellen nicht der Fall, da Blockaden in der Dominosteinkette das Umfallen der Dominosteine verhindern. Methadon kann aber wiederum diese Blockaden beseitigen. Methadon hilft also bei der Chemotherapie oder auch der Strahlentherapie, besser oder überhaupt zu wirken.
Bei welchen Krebsarten haben Sie das untersucht?
Friesen: Erst bei Blutkrebs. Dann bei einem bestimmten Gehirntumor. Dann folgten Brust-, Darm-, Bauchspeicheldrüsen-, Lungen-, Magen-, Blasen-, Leber-, Eierstock-, Prostata- und Hautkrebs. Überall war die Wirkungsverstärkung der Krebstherapien durch Methadon zu beobachten. Zunächst bei Zellkulturen, dann im Tierversuch. Inzwischen weiß ich von zahlreichen Patienten, dass ihnen die zusätzliche Gabe von Methadon geholfen hat und ihre Chemotherapie, die ohne Methadon nicht mehr angesprochen hat, bei Zugabe von Methadon zum Tumorrückgang geführt hat. Aber das sind eben alles nur Patienteneinzelfälle. Und es ist auch nicht so, dass es bei jedem Patienten immer gleich gut hilft. Nun wären dringend breit angelegte klinische Studien nötig, um wissenschaftlich zu belegen, dass Methadon Krebstherapien verstärken kann.
Warum machen Sie selbst keine Studien?
Friesen: Weil ich keine Ärztin, sondern Chemikerin bin. Solche Studien dürfen nur Ärzte durchführen, die auch Patienten behandeln dürfen. Ärzte würden mich hierbei unterstützen und diese klinischen Studien durchführen. Das große Problem ist die Finanzierung dieser Studien. Eine klinische Studie kostet über den Daumen gepeilt eine Million Euro. Das liegt nicht am Methadon. Das ist sehr preiswert. Das Wirkstoffpatent für Methadon ist schon seit Jahrzehnten abgelaufen. Es würden für Methadon nur etwa 25 Euro pro Monat anfallen. Aber bei einer Studie zahlen die Krankenkassen die Behandlungskosten nicht. Die dazugehörige Chemotherapie muss auch aus Studienmitteln bezahlt werden. Das macht die Sache unter anderem so teuer. Außerdem müssen die Studien jeweils für jede Krebsart gemacht werden. Dazu muss man sagen: Es gibt immerhin circa 200 verschiedene Krebsarten.
Wer kann solche Studien finanzieren? Friesen: Zum Beispiel die Deutsche Krebshilfe. Aber deren Mittel sind begrenzt. Die meisten klinischen Studien werden von der Pharmaindustrie bezahlt, die natürlich über ganz andere finanzielle Rahmenbedingungen verfügt. Aber die Pharmaindustrie hat womöglich wenig Interesse an Methadon-Studien, weil man mit Methadon wegen des abgelaufenen Wirkstoff-Patentschutzes wenig Geld verdienen kann. Was zumindest wirtschaftlich gesehen ja nachvollziehbar ist.
Nun sollen offenbar erste Studien beantragt worden sein.
Friesen: Die Deutsche Krebshilfe hat mitgeteilt, dass Studien mit Methadon zur Behandlung von Hirntumoren in Heidelberg im Juni 2017 und zu Darmtumoren in Ulm im April 2018 zur Prüfung eingereicht wurden. Ob diese Studien zu Methadon aber überhaupt gefördert werden, weiß man nicht, da die Gelder für die Förderung der klinischen Studien begrenzt sind. Bis Ergebnisse vorliegen, würden in jedem Fall noch Jahre vergehen.
Jetzt hat der Sohn eines krebserkrankten Patienten eine Petition beim Deutschen Bundestag eingereicht. Mit der Bitte, öffentlich mit Geld für klinische Studien unterstützt zu werden. Wie ist da der Stand der Dinge?
Friesen: Wir brauchen mindestens 50 000 Stimmen, damit sich der Deutsche Bundestag mit diesem Thema befasst. Die Unterschriften müssen binnen vier Wochen zusammenkommen. Die Frist ist am 10. Juli abgelaufen. Nun wird gezählt. Ich hoffe, es sind genügend Unterschriften zusammengekommen. Sie sind schon bei SternTV aufgetreten. Auch bei Plusminus wurden Sie interviewt. Man kann Ihnen auf der Website der Uniklinik eine Mail schicken, wenn man Fragen hat in puncto Methadonbehandlung. Wie viele Menschen haben sich bisher bei Ihnen gemeldet?
Friesen: Es gibt 50 bis 200 Anfragen pro Tag. Manchmal können es bis zu 1000 Anfragen pro Tag sein. Ich würde schätzen: Insgesamt sind es über 40 000 Anfragen in den vergangenen beiden Jahren gewesen.
Wie können Sie den Menschen dann helfen? Sie sind ja keine Ärztin. Friesen: Wir haben mittlerweile ein Netzwerk aus über 150 Ärzten, die bereit sind, einem Patienten Methadon zusätzlich zur Chemotherapie zu verschreiben, um den Krebs zu bekämpfen. Jeder Hausarzt kann problemlos Methadon verschreiben, wenn der Patient Schmerzen wegen des Krebses hat und der Arzt über sogenannte BTM-Rezepte verfügt. Denn Methadon ist ein anerkanntes und sehr gut wirksames Schmerzmittel. Da Krebspatienten oft Schmerzen haben und ohnehin schon andere Opioide wie Morphium als Schmerzmittel bekommen, können diese Patienten auf Methadon als Schmerzmittel umgestellt werden.
Und wenn man keine Schmerzen hat? Friesen: Dann kann ein Arzt das Methadon als sogenannten Off-LabelUse verschreiben. Er gibt dann das Medikament, obwohl es nicht für den Zweck der Krebsbehandlung zugelassen ist. Das ist möglich, liegt aber im Ermessen des jeweiligen behandelnden Arztes.
Kritiker sagen, Methadon habe starke Nebenwirkungen.
Friesen: Methadon kennt man schon über 80 Jahre. Die Nebenwirkungen sind eine Frage der Dosis. Deshalb sollte man Methadon nur nach ärztlicher Anweisung einnehmen. Die Dosis, bei der wir die guten Krankheitsverläufe beobachtet haben, beläuft sich auf zweimal zehn Milligramm bis zweimal 17,5 Milligramm der Substanz D,L-Methadon pro Tag. Das sind zweimal 20 bis zweimal 35 Tropfen D,L-Methadon täglich. Bei diesen Dosierungen sind die häufigsten Nebenwirkungen Übelkeit und Verstopfung. Dagegen kann man aber weitere Mittel geben, um diese Nebenwirkungen zu vermeiden. Patienten, die vorher keine Opioide genommen haben, können nicht sofort diese Dosis nehmen, sondern sie müssen sie mit ihrem Arzt langsam steigern.
Ihnen bläst auch weitere Kritik entgegen. Die reicht so weit, dass man Ihnen vorwirft, Sie würden den Menschen auf unbotmäßige Weise Hoffnungen machen und Heilsversprechungen geben, die Sie überhaupt nicht halten könnten.
Friesen: Jede Therapie braucht grundsätzlich Hoffnung. Die gilt auch für die etablierten Therapien. Bei den Patienten, die ich dokumentiert habe, handelt es sich in der Regel um austherapierte Patienten, die von ihren Ärzten zum Teil mit Prognosen von wenigen Wochen oder Monaten verbleibender Lebenszeit konfrontiert wurden. Viele dieser Patienten wurden zuvor mit Therapien behandelt, die für ihren Krebs nicht zugelassen sind – also auch im Off-Label-Use. Eine übliche Vorgehensweise in der Krebstherapie. Man sollte bei einer Therapie kein Versprechen machen, dass ein Patient geheilt wird. Das habe ich auch nicht getan. Auch lege ich immer großen Wert darauf, dass Patienten nicht auf ihre Therapie verzichten. Methadon sollte zu der eigentlichen Therapie als Adjuvans, also zusätzlich, gegeben werden.
Was ist nun nötig?
Friesen: Wir brauchen dringend klinische Studien, um den Nachweis von Methadon als Wirkverstärker von Krebstherapien zu erbringen. Bislang sind aber nicht einmal die beiden ersten beantragten Studien genehmigt. Es fehlt einfach Geld. Das ist sehr bedauerlich. Vielleicht stellt sich ja Methadon doch als sinnvolles Mittel heraus. Dr. Claudia Friesen, 53, leitet das molekularbio logische Forschungslabor (Schwerpunkt Onkolo gie) an der Uni Ulm.