Die Schande von Chemnitz
Eine Welle der Gewalt überrollt die Stadt. Erst stirbt ein Deutscher nach einer Messerattacke, zwei Flüchtlinge sitzen in Untersuchungshaft. Dann ziehen tausende Rechtsextremisten durch die Straßen. Experten reden von Selbstjustiz und sagen: Das hat sich
Chemnitz Am Anfang steht eine schreckliche Bluttat. Steht die Polizei, die binnen Stunden zwei Verdächtige fasst; Asylbewerber, die nun in Untersuchungshaft sitzen. Und steht die Justiz, die ein Verfahren einleitet und Haftbefehle erlässt. Am Ende wird, sollte die Schuld der Männer bewiesen sein, ein Urteil im Namen des Volkes stehen. Dann droht den beiden Flüchtlingen eine längere Gefängnisstrafe. Ein Prozedere, das diesen Staat zu einem Rechtsstaat macht. Das ist das eine.
Wenn es nun schon so weit ist, dass dies alles offenbar keine Rolle mehr spielt. Dass sich ein rechter Mob seine eigenen Gesetze zurechtlegt, sich rasend schnell Sympathisanten aus dem ganzen Bundesgebiet zusammensucht, an zwei Tagen mit wüsten Parolen durch die Straßen zieht, eine Hetzjagd auf Ausländer veranstaltet, und Experten später von „Selbstjustiz“reden, die zu einem Trend geworden sei. Wenn es also so weit ist, was sagt dies dann über den Zustand der Republik, zumindest über Teile davon?
Chemnitz, Sachsen. 250000 Einwohner, 7,3 Prozent Arbeitslose, 8,1 Prozent Ausländeranteil. In einem Jahr ist Landtagswahl, derzeit würden 25 Prozent die AfD wählen. Bis zur Wende hieß die Stadt KarlMarx-Stadt, und es ist ein ziemlich bizarrer Randaspekt eines ziemlich erschreckenden Ereignisses, dass sich Rechtsextremisten, Hooligans und Pegida-Anhänger für ihren Protest am Montag ausgerechnet vor dem Denkmal des kommunistischen Vordenkers aufgebaut haben.
Kurz vor 21 Uhr haben sie endgültig freie Bahn. Unbehelligt von der zahlenmäßig viel zu schwachen Polizei, ziehen sie nun ihre Bahn auf einer nicht genehmigten Runde vom Karl-Marx-Monument durch die Innenstadt. Schon zuvor haben sich immer wieder gewaltbereite Teilnehmer aus einer angemeldeten Demonstration der rechtspopulistischen Bewegung „Pro Chemnitz“gelöst, um mit Flaschen und Böllern linke Gegendemonstranten, Journalisten und auch Polizisten zu attackieren. Und wie schon seit Stunden grölen die Neonazis auch jetzt ihre bekannten Parolen: „Deutschland den Deutschen“, „Frei, sozial, national“oder „Hier marschiert der nationale Widerstand“.
Als der Spuk vorbei ist, zieht die Polizei Bilanz: 6000 Menschen auf der Rechten-Demo, 1000 Gegendemonstranten, 20 Verletzte, darunter zwei Polizisten, 43 Anzeigen, davon zehn gegen Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) stellt die Frage aller Fragen: „Wie ist es möglich, dass sich Leute verabreden, ansammeln und damit ein Stadtfest zum Abbruch bringen, durch die Stadt rennen und Menschen bedrohen?“Schlimm sei das. Und dann gibt es den Versuch, Erklärungen zu finden.
Da ist Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Er sagt der
„Der Staat ist dafür da, mit Polizei und Justiz seine Bürger zu schützen. Wenn er das in den Augen vieler Bürger aber nicht mehr leisten kann, besteht die Gefahr, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen und auf Bürgerwehren und Selbstjustiz bauen.“Nach Ansicht der Gewerkschaft hat der Staat mit Schuld an dieser Entwicklung. Der jahrelange Abbau von insgesamt 16000 Stellen bei der Polizei habe dazu geführt, dass alle Einsatzkräfte stets verplant seien.
Am Montag sind in Chemnitz 591 Beamte im Einsatz – zu wenig, wie sich später herausstellt. Landespolizeipräsident Jürgen Georgie räumt ein, man habe nicht mit so vielen Demonstranten gerechnet. Man habe zwar die Zahl der Beamten im Laufe des Tages verdoppelt, sei aber aufgrund von Erfahrungswerten davon ausgegangen, dass auch nur doppelt so viele Teilnehmer kommen als angemeldet waren, also insgesamt 3000.
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wiederum antwortet auf die Frage, ob die Polizei stets Herr der Lage gewesen sei, mit den Worten: „Ich sehe das Ergebnis. Das Ergebnis stimmt.“Nun sollen zusätzliche Einheiten der Bereitschaftspolizei nach Chemnitz ent- werden, um weitere Vorfälle zu verhindern. Allerdings: Schon den ganzen Sonntag über haben Gruppen wie die als rechtsextremistisch eingestuften Hooligans von „Kaotic Chemnitz“, aber auch AfDPolitiker und die in Bad Dürkheim beheimatete Neonazipartei „Der III. Weg“zu einer „Spontandemo“getrommelt. Ist es da nicht vorhersehbar, dass die für Montag angemeldeten Teilnehmerzahlen womöglich übertroffen werden?
Ein zweiter Erklärungsansatz, diesmal von Robert Lüdecke. Er ist Experte für Rechtsextremismus bei der Amadeu Antonio Stiftung und sagt: „Die Gesellschaft ist stark polarisiert, Menschen äußern immer unverhohlener, welche Menschen sie in Deutschland haben möchten und welche nicht.“Vor allem in den sozialen Netzwerken werde ungehemmt gehetzt. Hinzu komme, dass die rechte Szene sehr gut vernetzt sei. „Sie haben inzwischen leider auch jahrelange Erfahrungen, wie sie schnell mobilisieren können.“Und das im gesamten Bundesgebiet – siehe Chemnitz. Dort gebe es eine organisierte rechtsextreme Szene und „das klassische Pegida-Mitläufertum“, unterstützt durch Hooligans. Teile dieser gewaltbereiten Gruppe kommen aus dem Umfeld des Fußballklubs Chemnitzer FC.
Regierungschef Kretschmer sagt, die Mobilisierung im Internet sei stärker als in der Vergangenheit. Sie beruhe „auf ausländerfeindlichen Kommentaren, auf Falschinformationen und auf Verschwörungstheosandt rien“. Dann braucht es nur ein Ereignis, einen Auslöser, um das Netzwerk zu aktivieren. In Chemnitz ist dies die tödliche Messerstecherei am Rande des Stadtfestes.
Wie in den Tagen zuvor legen auch am Dienstag viele Bürger Blumen am Tatort ab. Manche bleiben ein paar Minuten stehen, jemand hat ein gerahmtes Bild des Opfers aufgestellt. Eine Sonnenblume verdeckt fast den angebrachten Trauerflor. Hier sind in der Nacht auf Sonntag zwei Gruppen mit bis zu zehn Personen unterschiedlicher Nationalitäten aufeinander losgegangen. Dabei wurden drei Männer durch Messerstiche verletzt – zwei Russlanddeutsche, 33 und 38 Jahre alt, sowie ein 35-jähriger Deutscher, ein gelernter Tischler. Medien berichten von kubanischen Wurzeln, was die Staatsanwaltschaft aber nicht bestätigt. Der Mann wurde so schwer verletzt, dass er kurze Zeit später im Krankenhaus starb. Noch in der Nacht nahm die Polizei zwei Tatverdächtige fest, einen Syrer, 23, und einen 22-jährigen Iraker.
Am Montag erlässt die Staatsanwaltschaft Haftbefehle wegen gemeinschaftlichen Totschlags. Gestern sagt eine Sprecherin: „Nach dem bisherigen Erkenntnisstand bestand keine Notwehrlage für die beiden Täter.“Gerüchte im Internet, den Messerstichen sei ein sexueller Übergriff auf eine Frau vorausgegangen, dementiert Landespolizeipräsident Georgie. Das habe sich nicht bestätigt. Die Behörden stehen am Anfang ihrer Ermittlungen. Das ist, zwei Tage nach einer solchen Bluttat, Normalität in einem rechtsstaatlichen Verfahren. So bleiben vorerst Fragen, auf die es vielleicht noch länger keine klaren Antworten geben wird.
Zum Beispiel die, wie es möglich sein konnte, dass die sächsischen Polizeibeamten schon am Sonntag hilflos und überfordert wirkten, als Fußball-Hooligans und weitere rechte Demonstranten eine ausländerfeindliche Hassparade in der City veranstalteten, als gehöre die Stadt ihnen. Politische Beobachter sprechen schon lange von einer radikalisierten Basis aus AfD und Pegida, die mittlerweile so hochmütig sei, dass sie glaubt, die Regeln diktieren zu dürfen. Das geht bis hin zu dem schweren Vorwurf, die rechte Szene sei auch deshalb so selbstbewusst, weil sie die Polizei wie die politisch Verantwortlichen in der seit 1990 regierenden CDU mehr oder weniger auf ihrer Seite weiß.
Ministerpräsident Kretschmer, so viel steht fest, hat schon kürzlich keine gute Figur abgegeben, als die Polizei am Rande einer Pegida-Veranstaltung in Dresden ein ZDFFernsehteam festsetzte und sich ein Demonstrant, der den Fall ausgelöst hatte, als Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes herausstellte. Und diesmal? Am Sonntagmittag, Stunden nach der tödlichen Messerattacke, twitterte er mit Internet-Usern über eine geplante Veranstaltung in Chemnitz. Aber zu den aktuellen Ereignissen verlor er nicht ein Wort – trotz Nachfrage. Erst Montagnachmittag twittert Kretschmer: „Wir stehen als Freistaat
Die Polizei war viel zu schwach aufgestellt
Einer sagt: Man hat das nicht ernst genommen
an der Seite der Stadt Chemnitz.“Wen und was immer er damit gemeint haben will.
Kretschmer liegt damit auf einer Traditionslinie, die ihm alle seine Amtsvorgänger seit 1990 vorgaben. Schon Kurt Biedenkopf behauptete in den 1990er Jahren, als in vielen Städten des Landes gewalttätige Skinhead-Gangs für Angst und Schrecken sorgten, die Sachsen seien „immun gegen den Rechtsradikalismus“. Mit dieser „jahrelangen Verharmlosung von Rechtsextremismus und Rassismus“habe Sachsen nun ein Problem, sagt Experte Robert Lüdecke. Man habe es „jahrelang nicht ernst genommen und kleingeredet, vor allem von den politisch Verantwortlichen, aber leider auch von den Sicherheitsbehörden. Und das rächt sich nun.“
Mit Blick auf ähnliche Exzesse, die den Freistaat Sachsen seit vielen Jahren ereilen – von Hoyerswerda über Freital und Heidenau bis ins erzgebirgische Clausnitz –, wollen manche Beobachter sogar Methode erkannt haben. Lüdecke sagt, er erlebe immer wieder Vorfälle, „wo sich die Polizei eher auf die Seite derjenigen stellt, die Flüchtlinge angreifen“, und die rechte Szene gewähren lasse.