Woher kommt die neue deutsche Angst?
Vor drei Jahren spitzte sich die Flüchtlingskrise zu. Die Stimmung heute ist schlecht – obwohl die Wirtschaft brummt
Augsburg Auf den Tag genau drei Jahre ist es her, als tausende Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof mit Willkommensschildern bejubelt wurden. Einen Tag vorher, am 4. September 2015, hatte Kanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann beschlossen, Migranten aufzunehmen, die in Ungarn gestrandet waren. Es war der Beginn einer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, die zuletzt in den Demonstrationen in Chemnitz ihren Niederschlag gefunden hat: Die Stimmung wirkt zunehmend schlecht, die Politik liefert sich erbitterte Grabenkämpfe, die Brüche zwischen Ost- und Westdeutschland kommen deutlicher zum Vorschein. In einer Emnid-Umfrage für die
sagten 66 Prozent der Befragten, das Land habe sich zum Negativen verändert. 50 Prozent meinen, dass zu viele Migranten nach Deutschland kämen. 27 Prozent finden es in Ordnung, wenn gegen Ausländer protestiert wird.
Dabei ist zumindest eine Befürchtung aus dem Jahr 2015 bislang nicht eingetreten: Deutschland ist durch den Zuzug noch nicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Die Staatskasse ist so voll wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Der Überschuss von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialkassen stieg im ersten Halbjahr 2018 auf den Rekordwert von 48,1 Milliarden Euro.
Auch am Arbeitsmarkt sieht es weiter außerordentlich gut aus. In Bayern sowieso (3,5 Prozent), aber selbst im in die Schlagzeilen geratenen Sachsen, wo die Arbeitslosenquote landesweit zuletzt bei nur noch 5,8 Prozent lag, der niedrigste Wert seit 1991. Sogar die Sicherheitslage ist faktisch insgesamt besser als gefühlt. Gewalttaten junger Flüchtlinge erregen – zu Recht – viel Aufsehen. Doch insgesamt sank etwa in Bayern die Zahl aller Gewaltdelikte voriges Jahr um mehr als drei Prozent.
Uns Deutschen geht es also ziemlich gut – warum aber fühlen wir uns dann so schlecht?
„Das ist ein eigentümlicher Widerspruch“, sagt Wolfgang Thierse, früherer Bundestagspräsident (SPD). Doch Faktoren wie Globalisierung oder die digitale Transformation schürten eine tiefe Unsicherheit – auch und vor allem im Osten Deutschlands. Dort sei die Erwartung an den Staat größer als im Westen. „Demokratie kann bisweilen mühselig und langsam sein“, sagt Thierse.
Deutlicher formuliert Innenminister Horst Seehofer (CSU), einer der schärfsten Kritiker von Kanzlerin Merkels Flüchtlingspolitik. Er sagt: „Die Ängste und Sorgen der Bevölkerung bei der Migrationsfrage haben zugenommen. Das Thema spaltet und polarisiert die Gesellschaft in unserem Land.“
Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach erkennt diese Sorgen, gibt aber auch zu bedenken: „Die Tradition, über die Politik zu schimpfen, hat es in Deutschland immer gegeben.“Sobald die Deutschen ihre persönliche Lage beurteilen sollten, sei ihre Zufriedenheit jedoch hoch – genauso wie das Bewusstsein für den Wohlstand des Landes. Was die Deutschen in die Arme der AfD und bisweilen auf die Straße treibe, sei die Angst davor, diesen Wohlstand zu verlieren. „Die Furcht vor Veränderung ist die eigentliche Triebkraft“, sagt Petersen.
Eine detaillierte Analyse zur deutschen Verfasstheit drei Jahre nach dem Wendepunkt der Flüchtlingspolitik lesen Sie in der Politik.
„Die Furcht vor Veränderung ist die eigentliche Triebkraft.“Thomas Petersen, Meinungsforscher