„Politik kann bezahlbare Mieten sichern“
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles will sich von schlechten Umfragewerten nicht beirren lassen. Sie erklärt, warum sie einen Gerechtigkeitswahlkampf für Erfolg versprechend hält und in der Flüchtlingspolitik Pragmatismus gefragt ist
Wochen steht die SPD in den Umfragen nur noch auf Platz vier hinter CSU, Grünen und AfD. Blutet Ihnen als Parteivorsitzenden da Ihr sozialdemokratisches Herz?
Andrea Nahles: Schön ist anders. Aber das spornt uns auch an. Wir wollen uns da rauskämpfen. Ich glaube, nach dem Ende der Ferien wird auch vielen Wählern erst richtig bewusst, dass es in Bayern jetzt ernst wird. Und wir haben in den einzelnen Wahlkreisen sehr gute Kandidatinnen und Kandidaten, deren Bedeutung für die Wahl sich bislang in Umfragen noch nicht widerspiegelt.
Die SPD plakatiert in Bayern groß die Wörter „Anstand“und „Gerechtigkeit“. Das erinnert etwas an ihren recht erfolglosen Bundestagswahlkampf, der hinterher selbst in Ihrer Partei als zu inhaltsleer kritisiert wurde. Machen Sie nicht jetzt den gleichen Fehler?
Nahles: Abwarten! Die Frage, wie man Politik machen soll, nämlich mit Anstand, bewegt die Menschen tatsächlich. Es ist doch gerade allgegenwärtig. Ebenso das Thema bezahlbarer Wohnraum und die Frage, wie die Menschen in Bayern endlich Arbeit, Leben und Familie besser zusammenbringen können. Die CSU ist beim Thema Wohnen völlig unglaubwürdig. Sie hat die Zahlen der sozialen Wohnungen in Bayern von 250 000 auf 125 000 halbiert. Wohnen ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Deshalb fordert die SPD einen Mietenstopp für fünf Jahre, also eine Atempause für alle Mieterinnen und Mieter. Und in dieser Zeit eine ganze Reihe von Maßnahmen, um sie zu stärken und den Bau von Wohnungen anzukurbeln. Wohnungen sind kein Produkt wie jedes andere. Da muss der Staat eingreifen, wenn es seit Jahren aus dem Ruder läuft – zur Not auch massiv eingreifen. Politik kann bezahlbare Mieten sichern. Die SPD hat den Willen dazu, jetzt kommt es auf CDU und CSU an.
Das ist ein drastischer Eingriff in den Markt. Wird damit der dringend benötigte Wohnungsbau nicht erst recht ausgebremst?
Nahles: Überhaupt nicht. Wir müssen die Explosion der Mietpreise stoppen, deshalb wollen wir Mietsteigerungen für fünf Jahre auf die Inflation begrenzen. In der Zeit brauchen wir einen Mix von Maßnahmen, um das Bauen von bezahlbaren Wohnungen attraktiver zu machen. Wir fördern zum Beispiel den Wohnungsbau durch Sonderab- schreibungen bei der Steuer. Wir wollen auch, dass man Grundstücke billiger bekommt, wenn man Wohnungen drauf baut. Und der Staat muss auch selber bauen. Richtig ist: Der Wohnungsmarkt darf nicht nur Profitinteressen folgen, sondern Wohnungen sind ein Zuhause für Menschen, das muss bezahlbar bleiben.
Hohe Mieten sind vor allem ein städtisches Problem. Könnte man nicht ganz pragmatisch sagen: Wem es in der Stadt zu teuer ist, der soll aufs Land ziehen?
Nahles: Der Mietenstopp soll in angespannten Wohnlagen gelten, vor allem also in Ballungsräumen. Wir wollen keine Innenstädte nur für Gutverdiener. Aber es steckt eine Wahrheit in der Frage: Verkehrsanbindungen mit Bus und Bahn, günstige Alternativen zum Auto und eine Stärkung des ländlichen Raumes sind auch wichtig, denn viele wollen gern auf dem
Land leben.
Aber hat die SPD hier nicht auch Fehler gemacht? Unter SPD-Regierungen ging der soziale Wohnungsbau zurück, unter Rot-Grün wurden massenhaft gemeinnützige Wohnungen an private Investoren verkauft …
Nahles: Da ist über Jahre hinweg überall in Deutschland viel falsch gemacht worden – auch von SPDRegierungen. Aber seit einigen Jahren fährt der Zug in den SPDregierten Ländern in die andere Richtung. Zum Beispiel in Hamburg: Dort hat Olaf Scholz massiv investiert und sein Wahlversprechen gehalten, jedes Jahr 6000 Wohnungen zu bauen. Deshalb wurde er dann auch wiedergewählt. Bayern ist das einzige Bundesland, das die letzten Jahre im Dornröschenschlaf verbracht hat und sogar 33000 Wohnungen verkauft hat, obwohl sich der Notstand am Wohnungsmarkt massiv abzeichnete. Das nur, um die Bilanzen vom damaligen Finanzminister Söder aufzuhübschen. Bayern ist das Land mit dem größten Mietpreisdruck. Deshalb finde ich es unglaubwürdig, wenn ausgerechnet ein paar Wochen vor der Wahl Herr Söder den Menschen plötzlich eine Kehrtwende verspricht.
Dafür findet es die CSU skandalös, dass das SPD-geführte Arbeitsministerium die Auszahlung des bayerischen Familiengeldes an Hartz-IV-FamiliSeit en verhindern will. Warum ist die SPD ausgerechnet in dieser sozialen Frage so hart?
Nahles: Die SPD ist da überhaupt nicht hart, wir sorgen für Kinderbetreuung, Elterngeld, höheres Kindergeld – überall in Deutschland. Das Bundesarbeitsministerium kann in dieser Frage in Bayern gar nicht anders handeln – die rechtlichen Vorgaben sind da klar. Die CSU weiß das ganz genau. Scheinheiliger geht es nicht. Dieses Vorgehen hat bei der CSU Tradition: In Wahlkämpfen haut man unseriöse Wahlversprechen raus, die nach der Wahl keiner rechtlichen Prüfung standhalten. Beim Betreuungsgeld und bei der Pkw-Maut war das genauso. Wenn es der Landesregierung um die Sache geht, soll sie sich nach der Landtagswahl mit dem Bundesarbeitsministerium hinsetzen und klären, wie eine anrechnungsfreie Landesleistung für Familien rechtlich gestaltet werden müsste. Bis dahin sollten die bisherigen Leistungen weitergezahlt werden, damit die Betroffenen am Ende nicht mit leeren Händen dastehen. Die CSU benutzt hier Hartz-IVBezieher für ein schäbiges Wahlkampfmanöver.
Vom Unmut über die bayerische Politik scheint neben den Grünen vor allem die AfD zu profitieren. Die Rechtspopulisten waren bei mehreren Landtagswahlen schon die stärkste Arbeiterpartei. Erreicht die SPD ihre alte Kernwählergruppe nicht mehr?
Nahles: Unsere Politik muss sich auf genau die Probleme richten, die den Leuten unter den Fingernägeln brennen. Und zwar konsequent. Wir bieten bei der Rente, beim bezahlbaren Wohnraum und der Politik für junge Familien klare Angebote, nämlich klar für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Glauben Sie, es bringt Ihnen Erfolg, wenn Sie jetzt sagen, wir müssen die Steuern für die Rente erhöhen? Nahles: Wir müssen für die Rente nicht die Steuern erhöhen! Finanzminister Olaf Scholz bildet Rücklagen. Das haben viele noch gar nicht mitbekommen, weil es in dem von Horst Seehofer veranstalteten Chaos um Grenzkontrollen völlig untergegangen ist. Wir haben für die Rente im Haushalt eine Demografie-Rücklage beschlossen. Wir legen jetzt von den sehr guten Steuereinnahmen Geld zurück und nutzen es, wenn nach 2025 die Generation der Babyboomer in Rente geht, damit die Beiträge nicht massiv steigen müssen. Dennoch wird das eine Kraftanstrengung. Wir haben heute schon in der Rentenfinanzierung einen Mix aus Steuern und Beiträgen aus der Rentenversicherung, da wird der Steueranteil steigen müssen – innerhalb des Bundeshaushaltes.
Wäre es nicht glaubwürdiger, wenn der Bund seine Staatsverschuldung deutlicher als bisher abbauen würde, um künftigen Politiker-Generationen mehr Handlungsspielraum zu geben? Nahles: Wir haben bereits die schwarze Null und wir führen Schulden zurück. Aber wann, wenn nicht jetzt, sollen wir Rücklagen bilden? Unter den Dreißig- bis Fünfzigjährigen sagen 90 Prozent, dass sie kein Vertrauen haben, dass sie einmal von ihrer gesetzlichen Rente gut leben können. Wenn das so eine große Angst ist, kann der Staat nicht einfach sagen, dieses Problem ist unlösbar. Wir handeln! Wir machen nun den Neustart für eine stabile Rente. Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass am Ende die gesetzliche Rente die tragende Säule ihrer Altersversorgung sein wird.
Das Thema Zuwanderung und Flüchtlingspolitik kommt bei Ihren Zukunftsthemen wohl nur als Unterpunkt vor. Man hat den Eindruck, die SPD macht einen Bogen um dieses Thema. Bauen Sie darauf, dass sich irgendwann die Stimmung beruhigt? Nahles: Nein. Wir schlagen keinen Bogen um dieses Thema, die SPD geht die Probleme frontal an. Wir ducken uns nicht weg. Wir sagen klar, wir brauchen Ordnung und Steuerung in der Einwanderungspolitik. Das war das einzig Gute an dem von Horst Seehofer angerichteten Chaos: dass die SPD ihn nun darauf verpflichten konnte, noch dieses Jahr einen Entwurf für ein neues Einwanderungsgesetz vorzulegen. SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil arbeitet ebenfalls daran. Unabhängig davon verteidigen wir das Grundrecht auf Asyl. Aber wir glauben, dass die große Masse der Zuwanderung aus anderen Gründen erfolgt und wir hier Ordnung und Struktur reinbringen müssen, mit klaren Kriterien.
Sie streiten sich mit der Union besonders in der Abschiebepolitik … Nahles: Die Leute, die sich gut integrieren, sollen hier auch bleiben dürfen. Wir schieben doch im Moment die Falschen ab: Gut integrier- te Menschen werden aus der Ausbildung herausgerissen. Aber bei den Gefährdern und gefährlichen Straftätern haben wir Schwierigkeiten, sie zurückzuführen. Das kann so nicht bleiben. Daran arbeiten wir. Deshalb war Angela Merkel in Afrika, um mehr Kooperationsbereitschaft bei den Rückführungen zu erreichen. Wir haben als SPD immer gesagt, dass wir beschleunigte Asylverfahren brauchen: Die Niederlande schaffen es, in einer Woche festzustellen, wer eine Schutzberechtigung haben soll und wer nicht. Das müssen wir auch hinbekommen. Schwierige Fälle kann man binnen drei Monaten klären. Deswegen brauchen wir besondere Aufnahmeeinrichtungen. Aber Horst Seehofer muss hier jetzt endlich mal vorankommen.
Aktuell sorgen der Fall Chemnitz und der Streit um ein Video für Unruhe im Land. Sollte sich herausstellen, dass das Video aus Chemnitz echt ist – müssten nicht sowohl Innenminister Seehofer als auch VerfassungsschutzChef Maaßen ihren Hut nehmen? Nahles: Es gibt genügend Augenzeugen und über 100 Ermittlungsverfahren, um zu wissen, was in Chemnitz passiert ist. Alle Versuche, das Geschehen entgegen dieser Tatsachen zu verharmlosen oder gar zu leugnen, betreiben das Geschäft der Rechtspopulisten – wie man an ihrem Beifall sieht.
Schaffen Sie es, den Rechtspopulisten irgendwann das Wasser abzugraben? Nahles: Sofern es um rationale Argumente geht, können wir bei den Menschen sehr viel erreichen, wenn wir die Verfahren und Abläufe verbessern. Wir haben natürlich Schwierigkeiten, an Leute heranzukommen, die ihre Ressentiments ausleben. Und wenn es um blanken Rassismus und Nationalismus geht, wie er sich in Chemnitz hemmungslos Bahn gebrochen hat, müssen wir uns entschlossen dagegenstellen. Ich bin überzeugt, dass die große Mehrheit der Deutschen ein weltoffenes Land will, das gut organisiert ist und in der Flüchtlingsfrage Humanität und Effizienz verbindet. Andrea Nahles, 48, ist seit April 2018 Vorsitzende der SPD – als erste Frau in der Geschichte der Par tei. Die studierte Germanistin war 2009 bis 2013 SPD Generalsekretä rin. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter. Die Katholikin lebt auf einem Bauernhof in der Eifel. (AZ)