Nervenkrieg im Jugendamt
Nach einer mehrstündigen Geiselnahme in der Stadtverwaltung in Pfaffenhofen an der Ilm legt ein 29-jähriger Vater vor Gericht ein Geständnis ab und erklärt, was ihn zu der gewaltsamen Tat getrieben hat
Ingolstadt Er sitzt da auf der Anklagebank, blass, die Haare kurz geschoren, und sagt, dass er „aufgeregt sei“. Dann gesteht er alles.
Der 29-jährige Ingolstädter muss sich wegen Geiselnahme und gefährlicher Körperverletzung verantworten. Die Staatsanwaltschaft Ingolstadt wirft ihm vor, am 6. November des vergangenen Jahres eine Mitarbeiterin des Pfaffenhofener Jugendamtes in seine Gewalt gebracht, mit einem Messer bedroht und auch verletzt zu haben. Nach knapp sechs Stunden hatten zwei als Notärzte getarnte Polizeibeamte den Geiselnehmer, Vater einer kleinen Tochter, mit Elektroschockern überwältigt und die Frau befreit. Das Jugendamt von Pfaffenhofen liegt mitten im Altstadtzentrum. Der Großeinsatz mit über 300 Polizisten versetzte die Kreisstadt an der Ilm in Angst und Schrecken.
Das Motiv für die Tat: Der Mann wollte beim Jugendamt durchsetzen, wie er vor der 5. Strafkammer aussagte, dass seine Tochter aus einer Pflegefamilie zurück in die Obhut der leiblichen, psychisch kranken Mutter, zurückgegeben wird. Wenige Tage vor der Tat war der Bescheid des Amtsgerichts Pfaffenhofen zugestellt worden. Dieses hatte angeordnet, es müsse zunächst ein familienpsychologisches Gutachten eingeholt werden, bevor entschieden werden könne, ob das Kind aus der Pflegefamilie zurück zur leiblichen Mutter komme. Der Angeklagte sagte, er habe daraufhin „ziemlich düstere Gedanken“bekommen. Er wollte seine Tochter zurück. Für die Mutter und für sich.
Ohne Termin war er dann an jenem Novembermorgen zum Jugendamt gegangen. Nach einem kurzen Gespräch in dem Zimmer im dritten Stock hatte ihm die Mitarbeiterin des Jugendamtes klargemacht, dass sein Kind sobald nicht nach Hause käme. Das Messer, ein Victorinox mit einer Klingenlänge von 8,5 Zentimetern, hatte er ein paar Tage vorher gekauft. „Ich hatte es dabei, wusste aber nicht, ob ich es tun würde.“Die Frau selbst, sagte er, „konnte eigentlich nichts dafür, sie war halt die einzige Person, mit der ich Kontakt hatte“. Ein Zufallsopfer. Die Sachbearbeiterin musste den Kopf für das gesamte Jugendamt hinhalten.
Es ist kurz nach acht Uhr, als er die Waffe zieht und der 31-Jährigen vor Gesicht und die Brust hält. Es kommt zu einem Gerangel, bei dem sie eine Schnittverletzung am Hals erleidet. Eine Kollegin, die zur Hilfe kommt, wird aus dem Zimmer vertrieben. Danach verbarrikadiert er sich und versorgt die Frau notdürftig mit Verbandsmaterial. Die vertriebene Kollegin drückt in ihrem Büro den Notfallknopf. Der Verhandlungsgruppe der Polizei übermittelt der Angeklagte später seine Forderung: die Rückübertragung des Sorgerechts. Die Chefin der Geisel kommt rein und bietet an, er möge sie anstelle der Kollegin festhalten. Er schmeißt auch sie raus und hält dabei auch ihr das Messer an den Hals. Einen Fluchtversuch der Geisel verhindert er und verletzt die Frau dabei erneut. Diesmal an der Hand. Wie sie später der Polizei sagt, hat sie zu diesem Zeitpunkt Todesangst. Im Laufe des Tages geht es der Frau immer schlechter. Es ist 13.29 Uhr, als er fordert, die Geisel auszutauschen. 20 Minuten später ist er unschädlich gemacht.
Der psychisch nach wie vor angeschlagenen Geisel ersparte der Angeklagte am Mittwoch die Aussage vor dem Landgericht. Verteidiger Jörg Gragert verzichtete darauf, sie zu vernehmen. Sein Mandant ist seit der Verhaftung in der Psychiatrie untergebracht. Im Prozess geht es auch darum, ob er schuldfähig ist und dauerhaft in der Klinik bleiben muss. In Behandlung war er schon mehrmals, ergab die bisherige Beweisaufnahme. Mehrfach habe er zudem gesagt, er werde sich umbringen. Alkoholprobleme sind von früher auch bekannt. Zugleich wurde er zweimal wegen Beamtenbeleidigung vorbestraft.
Seine frühere Partnerin, die Mutter des Kindes, beschreibt ihn als nicht gewalttätig. Einmal nur sei er im Streit übergriffig geworden. Sein Verhältnis zu der damals eineinhalb jährigen Tochter sei immer gut gewesen. Die frühere Partnerin und auch die Schwester hätten ihm die Tat „nie zugetraut“. Die Mutter seiner Tochter sagte: „Er hat nur von acht bis zehn Uhr gedacht und sich sein Leben damit versaut.“