Missbrauchs Arzt: Neuer Prozess, gleiches Ende?
Der Kinderarzt Harry S. hat jahrelang Jungen missbraucht. Er wurde fast zur Höchststrafe verurteilt, doch die obersten Richter haben das Urteil gekippt. Es spricht aber einiges dafür, dass sich an seiner Strafe nicht so viel ändert
Er galt als guter, fürsorglicher Kinderarzt. Doch er führte ein Doppelleben. Harry S., 43, hat mindestens 20 Kinder missbraucht. Einen fünfjährigen Jungen entführte und betäubte er sogar. Deshalb wurde der Mediziner aus Augsburg im März 2016 zu dreizehneinhalb Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt. Doch der Bundesgerichtshof kippte das Urteil. Deshalb muss der Prozess erneut stattfinden. Im November soll er beginnen. Doch nach Informationen unserer Redaktion könnte dabei wieder ein ganz ähnliches Ergebnis herauskommen wie im ersten Prozess.
Dass Harry S. die Kinder missbraucht hat, steht in dem neuen Prozess nicht zur Debatte. Er hatte ein Geständnis abgelegt und eingeräumt, in seiner Freizeit immer wieder Jungen angesprochen und sexuell missbraucht zu haben. Teils hatte er die Opfer auch mit Medikamenten betäubt – etwa den Sohn einer guten Freundin. Er missbrauchte auch Jungen bei Ausflügen für sozial benachteiligte Kinder, die er organisierte. Harry S. nutzte dafür sein Ansehen als ehrenamtlicher Chefarzt des Augsburger Roten Kreuzes.
Dass Harry S. in der Neuauflage des Prozesses wieder verurteilt wird, gilt deshalb als sicher. Es wird vor allem um eine Frage gehen: Ist der Kinderarzt voll schuldfähig, so wie es die Jugendkammer des Land- gerichts im ersten Urteil angenommen hat? Oder war sein sexuelles Verlangen doch so krankhaft, dass er sich nicht mehr richtig kontrollieren konnte? Juristen sprechen in solchen Fällen von „verminderter Schuldfähigkeit“. Es bliebe dann am Ende zwar immer noch eine jahrelange Haftstrafe, sie müsste aber im Vergleich zum ersten Urteil wohl spürbar gemildert werden.
Eine entscheidende Rolle spielen deshalb die Gutachter. Das sind in solchen Fällen Neurologen und Psychiater, die den Angeklagten untersuchen und feststellen, ob er an einer psychischen Erkrankung oder leidet. Der Arzt Richard Gruber hatte im ersten Prozess festgestellt, dass Harry S. zwar ein sogenannter Kernpädophiler ist. Darunter verstehen Fachleute, dass eine Person in ihrer sexuellen Ausrichtung ausschließlich auf Kinder fixiert ist. Dennoch vertrat Richard Gruber die Ansicht, dass der Kinderarzt sein Handeln jederzeit noch steuern konnte – und er damit voll schuldfähig ist. Gleichzeitig ging Gruber von einer so hohen Rückfallgefahr aus, dass er eine Sicherungsverwahrung befürwortete.
Das allerdings konnten die Richter des Bundesgerichtshofs so nicht nachvollziehen. Psychisch krank, aber gleichzeitig voll schuldigfähig – das schien für sie nicht zusammen zu passen. Deshalb hoben sie das Urteil auf. Inzwischen wurde Harry S. von einem neuen Gutachter untersucht. Der Psychiater Norbert Leygraf kommt nach Informationen unserer Redaktion in einer ersten EinschätStörung zung unterm Strich zum selben Ergebnis wie sein Kollege Richard Gruber. Damit könnten die neuen Richter – dieses Mal wird die Dritte Strafkammer des Landgerichts entscheiden – Harry S. wieder als voll schuldfähig verurteilen.
So leicht wollen sich die Verteidiger des Kinderarztes aber nicht geschlagen geben. Die Rechtsanwälte Ralf Schönauer und Moritz Bode hatten schon im ersten Prozess einen eigenen Gutachter beauftragt, der die volle Schuldfähigkeit von Harry S. anzweifelte. Zudem halten sie das verhängte Strafmaß auch grundsätzlich für zu hoch. Es lag nahe an der in diesem Fall höchstmöglichen Gefängnisstrafe von 15 Jahren.
Harry S. aber sei geständig gewesen, er habe sich bei den Opfern entschuldigt und Entschädigungen bezahlt, sagt Ralf Schönauer. Das müsse vom Gericht auch honoriert werden. Auch das lebenslange Berufsverbot, das im ersten Urteil verhängt wurde, wollen die Anwälte noch einmal auf den Prüfstand stellen. Die Prozess-Neuauflage könnte bis ins kommende Jahr dauern. Zumindest wurden bis dahin schon mal Termine eingeplant.