„Für Kinder ist es keine einfache Zeit“
Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Josefinum wurde 40 Jahre alt. Chefärztin Michaele Noterdaeme erzählt, warum psychische Erkrankungen bei Jugendlichen zunehmen
Frau Professor Noterdaeme, Sie sind Chefärztin an der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie am Josefinum. Welcher Fall ging Ihnen bislang besonders nahe?
Michele Noterdaeme: Es gibt viele Fälle, die einen beschäftigen. Ich erinnere mich an einen Jungen, der als Vorschulkind zu uns kam. Er hatte schon immer Probleme. Seine Mutter war alleinerziehend und sehr engagiert. Sie hatte an vielen Stellen Hilfe gesucht, doch vergeblich. Sie hatte große Schuldgefühle, weil sie dachte, als Mutter versagt zu haben. Dabei stellte sich in der Klinik heraus, dass der Junge unter einer autistischen Störung leidet. Sein Problem war also jahrelang nicht erkannt worden. Inzwischen ist er 20 Jahre alt und hat die Schule gut geschafft. Das ist schön zu sehen. Ich erhalte immer noch regelmäßig Post von ihm und seiner Mutter.
Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie hat unlängst ihr 40-jähriges Bestehen gefeiert. Sie gilt als eine der größten Kliniken ihres Fachgebietes in Bayern. Woher kommen die Patienten?
Noterdaeme: Sie kommen von überall. Manchmal raten Lehrer den Eltern, mit ihrem Kind zu uns zu kommen, weil sie merken, dass es in der Schule nicht funktioniert. Dann sind es auch Kinderärzte oder Kindergärtnerinnen, die uns weiterempfehlen. Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche ohne Überweisungsschein zu uns ins Josefinum kommen können. Ein Anruf unter der Telefonnummer 0821/2412-435 reicht, um einen Termin zu vereinbaren.
In welchem Alter kommen die Kinder und Jugendlichen in die Klinik? Noterdaeme: Von null bis 21 Jahren. Unser Angebot beginnt mit der sogenannten Schreibaby-Ambulanz. Wir haben Kindergartenkinder, die Probleme mit dem Sprechen oder der Motorik haben, es kann aber auch um Schulangst gehen. Im Jugendalter sind Essstörungen oder das Ritzen ein Thema, wie etwa auch Mobbing in sozialen Netzwerken oder das Entwickeln von suizidalen Ideen. Man kann sagen, dass jede Altersstufe ihre eigenen Probleme hat.
Mit einer Behandlung oder Sitzung ist es sicherlich in den meisten Fällen nicht getan ...
Noterdaeme: Nein. Manche Patienten begleiten wir über eine sehr lange Zeit. Dabei wird ein Großteil der Arbeit ambulant verrichtet. Wir Ärzte und auch die Psychologen sind auch oft die Übersetzer für die Angehörigen der jungen Patienten. Kinder und Jugendliche erfahren dann in ihrem Umfeld ein anderes Verständnis.
Was hat sich in den letzten Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verändert?
Noterdaeme: Die Wahrnehmung für psychische Erkrankungen hat sich deutlich verbessert. Heute wird ein Kind nicht mehr so schnell als Sonderling abgestempelt. Es gibt längst Namen für psychische Krankheiten. Das bedeutet zugleich, dass es auch Behandlungskonzepte gibt. Vor 30 Jahren hieß es etwa noch, Kinder können nicht depressiv sein. Heute weiß man sehr wohl, dass Depressionen auch bei Kindern vorkommen.
Haben psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen?
Noterdaeme: Ja, weil eben mehr Krankheiten erkannt werden. Aber es gibt tatsächlich auch einen realen Anstieg. Die Ursache dafür ist der steigende Druck in der Gesellschaft. gibt Menschen, die können gut mit Stress umgehen, andere aber weniger. Menschen, die eine gewisse Verletzlichkeit haben, die werden unter Druck eher an Depressionen erkranken als die anderen. Im Volksmund heißt das dann Burnout.
Was bedeutet es denn, wenn man vom vielbesagten Druck durch die Gesellschaft spricht?
Noterdaeme: Der Leistungsdruck für Kinder und Jugendliche steigt. Ich sage nur das Stichwort G8 statt G9. Aber auch schon in den ersten Klassen sollen Kinder viele Leistungen erbringen. Dabei sind Kinder gerade in der Grundschulzeit variabel. Manche von ihnen sind Spät-, manche Frühentwickler. Beides ist in dem Alter ganz normal. Doch für die einen wird der Druck dann schon zu groß. Zudem sollen Kinder nachmittags ins Ballett gehen, Sport machen oder ein Musikinstrument lernen – Kinder haben ein dicht gepacktes Programm. Das wird so gewünscht, weil es jeder so macht. Zudem kommt das Verlangen nach Konsumgütern wie Smartphones oder Tablets. Auch das erzeugt Druck.
Haben es Kinder und Jugendliche heutzutage schwerer als noch vor etwa zehn Jahren?
Noterdaeme: Das lässt sich schwer beurteilen. Aber es ist sicherlich keine einfache Zeit. Alles ist inzwischen öffentlich, alles wird auf Facebook und Co. gepostet – auch mit Bildern. Für Kinder und Jugendliche ist das ein ständiger öffentlicher Druck. Damit muss man richtig umgehen können beziehungsweise dies lernen. Da stehen Eltern in der Verantwortung, aber auch Schulen oder Vereine. Es ist eine Gesamtverantwortung, die wir alle für Kinder haben.
Jeder zehnte Heranwachsende soll psychisch so schwer erkrankt sein, dass er professionelle Hilfe braucht. Das klingt enorm.
Noterdaeme: 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben psychische Probleme, zehn Prozent sind beEs handlungsbedürftig. Das ist eine hohe Zahl, die auch dem geschuldet ist, dass man Erkrankungen inzwischen besser erkennt. Trotzdem ist es bedenklich, dass so viele Kinder psychisch erkranken.
Wie viele junge Patienten behandelt die Klinik mit ihren beiden Außenstellen in Kempten und Nördlingen? Noterdaeme: Wir haben 100 stationäre Betten und 70 TagesklinikPlätze, die kontinuierlich belegt sind. Dazu werden täglich 150 bis 170 Patienten in der Institutsambulanz behandelt. Der große Wert unseres Faches ist es, Probleme früh zu erkennen. Denn je schneller man Kindern und Jugendlichen helfen kann, umso besser ist es. Sonst verfestigen sich die Erkrankungen.
Interview: Ina Marks