Wie es den Senioren nach der Evakuierung geht
In der Nacht auf Samstag räumte die Stadt kurzfristig ein Wohnhaus mit Betreutem Wohnen in der Altstadt wegen Einsturzgefahr. 27 Bewohner wurden umquartiert. Wie sie im Hotel zurechtkommen und was als Nächstes passiert
Es war etwa halb elf Uhr abends am Freitag, als es bei Anneliese Binninger an der Tür klingelte: Mitarbeiter der Stadt und Kräfte des Roten Kreuzes standen an der Tür ihres Apartments im Betreuten Wohnen am Oberen Graben 8. Sie solle sich so schnell wie möglich anziehen, ein paar Sachen zusammenpacken und dann das Haus verlassen. „Ich dachte erst: eine Weltkriegsbombe. Dann hieß es, dass das Haus einsturzgefährdet ist. Mein Blutdruck muss ordentlich nach oben gegangen sein. Jemand hat mir gesagt, dass ich ein ganz rotes Gesicht hatte, aber das habe in der Hektik gar nicht bemerkt“, erzählt Binninger am Tag nach der Evakuierung.
Wie berichtet entschloss sich die Stadt dazu, das Wohn- und Geschäftshaus in der Nacht auf Samstag wegen Einsturzgefahr zu räumen und ein Betretungsverbot auszusprechen. 27 Bewohner aus den Einzelapartments mussten ausziehen. Ein Statiker, so die Stadt, habe am Donnerstag bei einer routinemäßigen Begehung Risse im Mauerwerk entdeckt und dann weitere Untersuchungen vorgenommen. Am Freitag ging dann das schriftliche Gutachten bei der Stadt ein – darin enthalten war die Empfehlung der „unverzüglichen Räumung“. Ein Krisenstab unter Leitung von Oberbürgermeister Kurt Gribl erörterte die Lage – am Freitagabend fiel die Entscheidung, das Gebäude, das einer von der Stadt verwalteten Stiftung gehört, sofort zu räumen.
Auf die Schnelle wurden städtische Mitarbeiter und Ehrenamtliche der Rettungsorganisationen zusammengetrommelt. „Im ersten Augenblick waren einige Leute verängstigt und haben gar nicht verstanden, warum sie jetzt gehen sollen“, so Jens Strauß vom Roten Kreuz, der mit seinem Team am Freitagabend im Einsatz war. In Gesprächen habe man den Senioren den Grund dann erläutern können. Mit einem Bus der Feuerwehr wurden laut Feuerwehr 14 Bewohner ins Dorint-Hotel gefahren, den Senioren wurde beim Einchecken und Beziehen der Zim- mer geholfen. Einige Bewohner, vorwiegend solche mit mehr Gebrechen, kamen im städtischen Servatiusstift unter, einige weitere Bewohner konnten zu Angehörigen ziehen.
Im Hotel ist die Lage für manche erst einmal ungewohnt. Ins Dorint zog eine Frau mit, die mit Altersverwirrtheit zu kämpfen hat – sie tut sich mit der Orientierung in der ungewohnten Umgebung schwer. Und die schweren Zimmertüren sind für Senioren, die mit dem Gehwagen unterwegs sind, eine Herausforderung. „Aber das Personal ist sehr hilfsbereit. Und auch die Leute vom Roten Kreuz waren toll“, erzählt Elsbeth Liegmann, die ausquartiert wurde. In der ersten Nacht habe sie aber vor Aufregung kaum ein Auge zubekommen. Das Wochenende verbrachten die Senioren mit Warten auf Nachrichten.
Sie durften am Samstagnachmittag kurz in ihre Apartmens zurück, um Dinge, die sie am Freitagabend in der Eile vergessen hatten – von Augentropfen bis zum Kamm – zu holen. Am Montag werden die Senioren aus dem Hotel ausziehen müssen – die Zimmer sind schon anderweitig reserviert. Man habe aber eine Lösung in einer städtischen Altenhilfeeinrichtung in der Hinterhand, sagt Stadtsprecher Richard Goerlich, falls eine schnelle Rückkehr nicht möglich ist.
Das ist momentan nicht absehbar. Am Montag will der Krisenstab der Stadt erneut zusammentreten. Am Montag seien auch eine erneute Begehung des Gebäudes und eine Besprechung mit Statikern und Baufachleuten der Stadt angesetzt, so Stadtsprecher Goerlich. Dann wird es vielleicht mehr Klarheit geben, ob provisorische Sicherungsmaßnahmen möglich sind. „Die primäre Zielsetzung ist sicherlich, eine kurzfristige statische Ertüchtigung des Gebäudes zu erreichen, damit sowohl Bewohner wie auch Gewerbetreibende bald wieder zurückkehren können“, so Goerlich.
Oberbürgermeister Gribl, der mit Sozialbürgermeister Stefan Kiefer am Freitagabend bei der Räumung vor Ort war, sagt, dass die Entscheidung zur Evakuierung nach „gründlicher Abwägung“gefällt wurde. Die Stadt erklärte, man habe auch überlegt, die Räumung des Gebäudes mit etwas mehr Vorlauf und nicht noch in der Nacht auf Samstag anzuordnen. Allerdings habe man ein längeres Zuwarten angesichts der Statiker-Einschätzung nicht für vertretbar gehalten. Die Sicherheit der Bewohner gehe klar vor. Es handle sich bei der Räumung um eine „Vorsichtsmaßnahme“.
Der Gutachter war zusammen mit der auf Statik-Untersuchungen spezialisierten Landesgewerbeanstalt zum Ergebnis gekommen, dass die Grundmauern des Hauses, dessen Außenwand zur Barfüßerkirche hin auch die Kanalwand des Stadtgrabens bildet, unterspült sind. Unterhalb der Gründung gibt es offenbar Hohlräume, die auf 40 bis 50 Zentimeter Höhe geschätzt werden. Ob ein Wassereintritt aus dem Kanal die Ursache für die Unterspülung ist, ist unklar. Das Gutachten geht davon aus, dass sich durch die Unterspülung tragende Wände plötzlich setzen könnten. Das Gebäude wird seit mehreren Monaten saniert. Zuletzt wurden Mieter Ende September wohl aufgefordert, ihre Keller zu räumen.
Betroffen von der Räumung sind auch vier Geschäfte im Erdgeschoss. „Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, sagt Berndt Wagner vom Friseur „Haarscharf“. Er hat am Samstag etliche Termine mit Kunden abgesagt. Ein Teil seiner Belegschaft durfte in die Räume eines Salons auf der anderen Straßenseite ausweichen. „Für diese Hilfsbereitschaft bin ich dankbar“, sagt Wagner. Ein anderer Teil der Belegschaft ist in den Surfwear-Laden von „Degree“in der Altstadt ausgewichen, um dort Kundinnen die Haare für den Presseball am Abend hochzustecken. Degree-Mitinhaber Wolfgang Schimpfle ist Wagners Schwiegersohn in spe. „Wir versuchen, den Laden am Laufen zu halten“, so Wagner. Auch Renate Ammer vom benachbarten Juweliergeschäft hat die Schmuckstücke aus dem Schaufenster geräumt und Schmuck von Kunden, der zur Reparatur da war, zusammengepackt. Wie es weitergeht, ist auch ihr nicht klar. „Niemand kann uns sagen, wie lange wir ausquartiert sein werden.“Möglicherweise werde sie sich bei einem längeren Ausfall nach einem Ersatzgeschäft umsehen müssen. Einstweilen leitet sie ihr Telefon aufs Handy um, um für die Kundschaft erreichbar zu sein. „Irgendwie muss es weitergehen.“