Friedberger Allgemeine

Lindenstra­ße muss weitergehe­n?

- ANDREA KÜMPFBECK

Es soll ja tatsächlic­h Leute geben, die keine einzige Folge der „Lindenstra­ße“gesehen haben. Und die jetzt gar nicht wissen, was ihnen in den letzten 34 Jahren alles entgangen ist. Die „Lindenstra­ße“ist Kult. Und das völlig zu Recht. Sie ist eine Serie der alten Bundesrepu­blik, der Kohl-Ära, der bunten 80er Jahre. Mehr noch: Sie ist ein Stück Heimat. Weil sie jeden Sonntag um 18.50 Uhr eine halbe Stunde lang Verlässlic­hkeit bietet in unruhigen Zeiten. Denn selbst wenn man drei Jahre lang nicht eingeschal­tet hat, findet man sich sofort wieder zurecht im spießigen Mikrokosmo­s der Beimers und Zenkers und sonstigen Kleinbürge­rfamilien aus der Lindenstra­ße. Und auch wenn die Schauspiel­er mit den Jahren älter und die Kinder erwachsen geworden sind: Die ganzen langweilig­en Alltäglich­keiten des Lebens machen die Endlosseri­e so spannend, weil sich die Bewohner der Lindenstra­ße genauso damit herumschla­gen müssen wie man selbst.

34 Jahre lang haben wir mit den Serienfigu­ren gelebt. Haben in ihre biederen Eiche-rustikal-Wohnzimmer hineingeli­nst. Haben mit Mutter Beimer gelitten, wenn sie ihre Sorgen mit Spiegeleie­rn weggebrate­n hat. Wir waren Zeuge bei Mord und Totschlag, bei Kindesmiss­brauch und Selbstmord. Haben Liebe und Leid erfahren. Den ersten Aids-Toten im deutschen Fernsehen betrauert. Den ersten Schwulenku­ss erlebt. Und waren manchmal ganz schön froh, dass es uns irgendwie besser geht als Klausi oder Iffi oder Gabi oder Murat. Die „Lindenstra­ße“hat mit Tabus gebrochen, hat sich eingemisch­t, wurde gehasst und geliebt.

Deshalb kann man sie nicht einfach einstellen, diese langlebigs­te Serie des deutschen Fernsehens. Sie ist ein Stück Familie. Ein Stück Deutschlan­d.

Da hilft kein Tricksen oder Täuschen: Gegen die Zeit kommt man nicht an. Das müssen nun auch die Macher der „Lindenstra­ße“erfahren, jener schon längst von der Zeit überholten Mischung aus Volkshochs­chule und Seifenoper. Was haben der Sender und die Produzente­n in den vergangene­n Jahren für ein Feuerwerk gezündet, um die Zuschauer zu halten: neue Charaktere, die erste Schwulenho­chzeit in der Serie, das Spiegeln der Aktualität und gesellscha­ftlicher Debatten; dazu Jubelperse­r auf allen Medienkanä­len, überdimens­ionierte Feiern zu Jubiläen und hemmungslo­ses Ranwanzen an die Facebookun­d Instagram-Horden, die vielleicht doch nur virtuell existieren. Vor kurzem musste sogar Hans Beimer sterben. Spätestens da musste jedem klar sein: Die „Lindenstra­ße“ist nicht zu retten, ihr Siechtum wird nur noch künstlich in die Länge gezogen.

Die Serie muss jetzt enden. Dann besteht zumindest noch die Chance, dass man in ein paar Jahren eine positiv-verklärte Erinnerung an den urdeutsche­n TV-Dinosaurie­r entwickelt. An die mit der Mundharmon­ika geblasene Titelmelod­ie, an Mutter Beimer und an Sonntagabe­ndrituale; wenn man die Zeichen der Zeit weiter stur ausblendet, wird selbst daraus nichts mehr.

Eine zeitgenöss­ische Serie soll intelligen­t unterhalte­n. Sie soll Nähe schaffen, zum Nachdenken anregen, aber nicht belehren. Wann hat das die „Lindenstra­ße“zuletzt geschafft? Hat sie es denn je? Streng lineares Erzählen, betuliche Schnitte und Charaktere, die kaum aus ihrem engen Rollenkors­ett ausbrechen können – damit lockt man in Zeiten, in denen mutig inszeniert­e und aufwendig in Szene gesetzte Serien aus aller Welt jederzeit gestreamt werden können, niemanden mehr vor den Fernseher.

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