Lindenstraße muss weitergehen?
Es soll ja tatsächlich Leute geben, die keine einzige Folge der „Lindenstraße“gesehen haben. Und die jetzt gar nicht wissen, was ihnen in den letzten 34 Jahren alles entgangen ist. Die „Lindenstraße“ist Kult. Und das völlig zu Recht. Sie ist eine Serie der alten Bundesrepublik, der Kohl-Ära, der bunten 80er Jahre. Mehr noch: Sie ist ein Stück Heimat. Weil sie jeden Sonntag um 18.50 Uhr eine halbe Stunde lang Verlässlichkeit bietet in unruhigen Zeiten. Denn selbst wenn man drei Jahre lang nicht eingeschaltet hat, findet man sich sofort wieder zurecht im spießigen Mikrokosmos der Beimers und Zenkers und sonstigen Kleinbürgerfamilien aus der Lindenstraße. Und auch wenn die Schauspieler mit den Jahren älter und die Kinder erwachsen geworden sind: Die ganzen langweiligen Alltäglichkeiten des Lebens machen die Endlosserie so spannend, weil sich die Bewohner der Lindenstraße genauso damit herumschlagen müssen wie man selbst.
34 Jahre lang haben wir mit den Serienfiguren gelebt. Haben in ihre biederen Eiche-rustikal-Wohnzimmer hineingelinst. Haben mit Mutter Beimer gelitten, wenn sie ihre Sorgen mit Spiegeleiern weggebraten hat. Wir waren Zeuge bei Mord und Totschlag, bei Kindesmissbrauch und Selbstmord. Haben Liebe und Leid erfahren. Den ersten Aids-Toten im deutschen Fernsehen betrauert. Den ersten Schwulenkuss erlebt. Und waren manchmal ganz schön froh, dass es uns irgendwie besser geht als Klausi oder Iffi oder Gabi oder Murat. Die „Lindenstraße“hat mit Tabus gebrochen, hat sich eingemischt, wurde gehasst und geliebt.
Deshalb kann man sie nicht einfach einstellen, diese langlebigste Serie des deutschen Fernsehens. Sie ist ein Stück Familie. Ein Stück Deutschland.
Da hilft kein Tricksen oder Täuschen: Gegen die Zeit kommt man nicht an. Das müssen nun auch die Macher der „Lindenstraße“erfahren, jener schon längst von der Zeit überholten Mischung aus Volkshochschule und Seifenoper. Was haben der Sender und die Produzenten in den vergangenen Jahren für ein Feuerwerk gezündet, um die Zuschauer zu halten: neue Charaktere, die erste Schwulenhochzeit in der Serie, das Spiegeln der Aktualität und gesellschaftlicher Debatten; dazu Jubelperser auf allen Medienkanälen, überdimensionierte Feiern zu Jubiläen und hemmungsloses Ranwanzen an die Facebookund Instagram-Horden, die vielleicht doch nur virtuell existieren. Vor kurzem musste sogar Hans Beimer sterben. Spätestens da musste jedem klar sein: Die „Lindenstraße“ist nicht zu retten, ihr Siechtum wird nur noch künstlich in die Länge gezogen.
Die Serie muss jetzt enden. Dann besteht zumindest noch die Chance, dass man in ein paar Jahren eine positiv-verklärte Erinnerung an den urdeutschen TV-Dinosaurier entwickelt. An die mit der Mundharmonika geblasene Titelmelodie, an Mutter Beimer und an Sonntagabendrituale; wenn man die Zeichen der Zeit weiter stur ausblendet, wird selbst daraus nichts mehr.
Eine zeitgenössische Serie soll intelligent unterhalten. Sie soll Nähe schaffen, zum Nachdenken anregen, aber nicht belehren. Wann hat das die „Lindenstraße“zuletzt geschafft? Hat sie es denn je? Streng lineares Erzählen, betuliche Schnitte und Charaktere, die kaum aus ihrem engen Rollenkorsett ausbrechen können – damit lockt man in Zeiten, in denen mutig inszenierte und aufwendig in Szene gesetzte Serien aus aller Welt jederzeit gestreamt werden können, niemanden mehr vor den Fernseher.