Friedberger Allgemeine

Dem Wunder folgt der Schmerz

Jahrzehnte­lang leiden Melanie Volkart und ihre Mutter unter massiven Muskelkräm­pfen. Viele Ärzte stellen viele Diagnosen. Aber nichts hilft. Bis ein Neurologe im Augsburger Klinikum das Rätsel löst. Das Glück scheint perfekt. Dann nimmt sich die Mutter da

- VON INA MARKS

Augsburg In ihrem Studium ist Melanie Volkart abends oft aus der Uni gekrabbelt. Anders ging es nicht mehr. Sie wartete, bis alle weg waren und die Lichter ausgingen. Melanie Volkart wollte weder Mitleid noch Spott. Erst wenn sie sich unbeobacht­et fühlte, kroch sie auf allen vieren aus dem Gebäude über die Wiese in Richtung Bushaltest­elle.

Die Frau aus Königsbrun­n bei Augsburg litt unter starken Muskelkräm­pfen. Hände, Arme und Beine gehorchten ihr dann nicht mehr. Die Symptome verschlimm­erten sich von Jahr zu Jahr. Wie bei ihrer Mutter. Die Ärzte stellten viele Diagnosen. Alle waren falsch.

Bis die Mutter zufällig an den Chefarzt der Neurologie am Klinikum Augsburg geriet. Markus Naumann ist der Mann, dem der Durchbruch gelingen sollte. Für Mutter und Tochter. Als der Professor einer jahrzehnte­langen Leidensges­chichte das Ende bereitete, glich dies einem kleinen Wunder. Das Glück schien perfekt. Ein Trugschlus­s.

Dreieinhal­b Stunden nimmt sich Melanie Volkart in einem Augsburger Innenstadt­lokal Zeit für das Gespräch. Die heute 40-Jährige trägt Jeans, ein graues Sweatshirt, ihre blonden Haare hat sie zum Dutt hochgedreh­t. Sie lacht immer wieder, während sie erzählt. Nach außen wirkt sie fröhlich, unbeschwer­t. Gesundheit­lich geht es ihr inzwischen auch gut. Innerlich aber kämpft sie um Normalität.

Melanie Volkart wächst in Königsbrun­n auf. Der Vater ist Lehrer, die Mutter arbeitet als Zahntechni­kerin, sie hat einen Bruder. Ein normales Familienle­ben. Wären da nicht diese seltsamen Symptome bei Tochter und Mutter.

Beide können nicht normal gehen. „Bei mir sah es als Kind aus, als humpelte ich“, erinnert sie sich. Plötzliche Muskelkräm­pfe in Händen, Armen und Beinen kommen hinzu.

Sie klappern Ärzte und Kliniken ab, gehen zu Heilprakti­kern und Physiother­apeuten. Spastische Krämpfe, heißt es meist. Bei beiden Frauen? Gleichzeit­ig? Fakt ist: Helfen kann ihnen niemand.

Markus Naumann wird viele Jahre später der erste Mediziner sein, der an den bisherigen Diagnosen zweifelt. Die Art der Verkrampfu­ng bei der Mutter passt für ihn nicht zu Spastiken, sondern eher zu einer anderen Bewegungss­törung: einer Dystonie. Doch diese Erkenntnis ist damals für die Familie noch ganz weit weg.

Dort bleibt die mysteriöse Erkrankung fernab der Arztbesuch­e ein Tabu-Thema. Als ob das Totschweig­en die Anfälle verschwind­en ließe. „Meine Mutter war eine Kämpferin. Sie ließ sich nie hängen, war streng mit sich“, sagt Melanie Volkart. Den Kampf um Normalität verlangt die Mutter auch der Tochter ab. „Als Kind vermied ich es, vor ihr zu laufen, weil sie ständig meinen Gang korrigiert­e.“Die Mutter erträgt es offenbar nicht, dass die Tochter ihr Schicksal teilt. Trotz gegenseiti­ger Liebe ist das Verhältnis schwierig. Auch von Melanies Seite aus. „Ihr Zustand führte mir ständig vor Augen, wie schlecht es mir selbst einmal gehen würde.“

Selbst ihr geliebter Vater spricht nicht über die Erkrankung. Melanie Volkart überlegt kurz. „Ich glaube er wollte diese Sprachlosi­gkeit ausgleiche­n, indem er alles für mich tat.“So kümmert er sich darum, dass seine Tochter in der Kollegstuf­e des Augsburger Gymnasiums Maria Stern einen Nachteilsa­usgleich bekommt. Melanie wird fortan mehr Zeit in den Klausuren zugestande­n. Denn ihr Gesundheit­szustand wirkt sich auch auf die schulische­n Leistungen aus.

Weil die Hände immer öfter krampfen, kann Melanie im Unterricht schwer mitschreib­en. Meist endet es in Geschmier. Bis abends arbeitet sie daheim nach. Oft dauert das sehr lange. Denn im Laufe des Tages werden bei ihr die Symptome heftiger, wie auch bei der Mutter.

Genau dieser Umstand wird den Augsburger Neurologie­professor mehr als zehn Jahre später stutzig machen. „Als ich die Bewegungsa­bläufe der Mutter sah, war mir sofort klar, dass es sich um eine organische Störung handelt“, sagt Naumann. Die Tatsache, dass es der Patientin vormittags immer besser geht als am Abend, lassen ihn an eine spezielle Form der Dystonie denken. Naumann vermutet das Segawa-Syndrom. Bisher wurde er erst einmal in seiner Berufslauf­bahn mit dieser extrem seltenen Erbkrankhe­it konfrontie­rt. Bewegungss­törungen sind sein Spezialgeb­iet. „Über Dystonien habe ich habilitier­t.“

Obwohl es Melanie in ihrer Schulzeit so schlecht geht, will sie unbedingt das Abitur schaffen. In der Kollegstuf­e durchlebt sie zwei Höllenjahr­e. Es sind ihre schlimmste­n. „Mit dem Nachteilsa­usgleich in der Kollegstuf­e begann das Mobbing“, fährt sie fort. Die Mitschüler­innen neiden ihr den Zeitbonus in den Prüfungen. „Von einem Tag auf den anderen schauten sie mich nicht mehr an. Sie unterstell­ten mir, dass ich mir Vorteile verschaffe­n wollte.“Melanie wird nicht mehr zu Geburtstag­sfeiern eingeladen. Bei einem mehrtägige­n Klassenaus­flug auf einem Schiff quetschen sich die Mädchen lieber zu viert in eine Kabine, als sich mit ihr eine zu teilen.

Melanie Volkart beginnt ihre Gefühle abzuschalt­en. Sie wird zur Einzelgäng­erin, lernt, nur für sich zu kämpfen. „Diese Zeit hat mich hart gemacht. Geweint habe ich selten.“Zur Abifeier geht sie nicht. Ihr Zeugnis lässt sie sich zuschicken.

Viele raten ihr vom Studium ab. Aber Melanie Volkart setzt sogar noch einen drauf. Sie verlässt das Elternhaus, will eigenständ­ig leben, beginnt in Würzburg ein Lehramtsst­udium. Um Stresssitu­ationen wie Referate ohne Zitter- und Krampfanfä­lle zu schaffen, beginnt Melanie, davor Alkohol zu trinken. Das beruhigt ihren Körper. Mit der Dosierung tut sie sich manchmal schwer. Zweimal bricht sie zusammen, kommt ins Krankenhau­s. „Niemand vermutete, dass ich eine Alkoholver­giftung haben könnte.“

Ihr ganzes Leben hat Melanie bis dahin versucht, ihre Krankheit zu überspiele­n. Arztbesuch­e lässt sie irgendwann bleiben. Sie bringen sie nicht weiter. „Ich strukturie­rte meinen Alltag von vorne bis hinten durch.“Das nimmt zu der Zeit bisweilen tragisch-komische Züge an – wie eben das Herauskrab­beln aus der Uni. Manchmal steht sie an der Haltestell­e und kann nicht in den Bus steigen. Dabei ist er nur einen Meter von ihr entfernt. Ihre Beinmuskel­n versagen. Sie hält sich irgendwo fest, bis es vorbei ist. „Ich weiß nicht, wie viele Bustüren sich vor mir öffneten und ich es nicht schaffte zuzusteige­n.“Dann trifft sie an der Uni auf ihre große Liebe.

Stefan* ist ein ruhiger, besonnener junger Mann. Er fackelt nicht lange, wenn die Krämpfe sie schütteln, nimmt sie huckepack, ist für sie da. „Ich habe ihn unheimlich geliebt. Aber das mit uns klappte nur in meinem Ausnahmezu­stand“, sagt sie rückblicke­nd. Die beiden heiraten, wechseln an die Uni nach München. Da ist Melanies Vater bereits tot. Er starb im Jahr 2000 im Alter von 49 Jahren, völlig überrasche­nd im Urlaub auf Korsika. Das Herz. Für Melanie Volkart ist das ein schwerer Schlag. Den zweiten muss sie im April 2009 verkraften. Doch kurz zuvor passiert das kleine Wunder im Augsburger Klinikum.

Nach dem Tod des Vaters verschlech­tert sich der Gesundheit­szustand ihrer Mutter dramatisch. Sie sitzt fast nur noch im Rollstuhl. Die Mutter wird abhängig von Tavor, einem starken Beruhigung­smittel. Irgendwann lässt sie sich ins Bezirkskra­nkenhaus einweisen. Neben dem Entzug rät man ihr dort, sich wegen der Krämpfe in der Neurologie am benachbart­en Klinikum untersuche­n zu lassen.

Die Mutter hat darauf keine Lust mehr. Zu oft schon hat sie Ärzte erfolglos abgeklappe­rt. „Bitte Mama, versuch es ein letztes Mal“, redet Melanie Volkart ihr zu, die zu diesem Zeitpunkt schon selbst am Rollator gehen muss. Als die Tochter ihre Mutter bald in der Neurologie besucht, traut sie ihren Augen kaum.

Auf dem Stationsfl­ur kommt ihr die Mutter entgegenge­laufen. Ganz normal, völlig unverkramp­ft. „Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich meine Mama so sah.“Es sollte das letzte Mal sein. Aber die dramatisch­e Wendung kann sie in diesem Augenblick nicht erahnen. „Meine Mama und ich weinten. Wir lagen uns in den Armen.“

Hinter dem vermeintli­chen Wunder steckt eine richtige Diagnose. Eine Tablette sollte fortan reichen und die 57-Jährige würde wieder normal gehen. Eine einzige verdammte Tablette am Tag, erhältlich auf Rezept in jeder Apotheke.

Markus Naumann, Chefarzt der Neurologie und klinischen Neurophysi­ologie, weiß, dass das SegawaSynd­rom mit dem Medikament L-Dopa behandelba­r ist. Auch Parkinson-Patienten nehmen es. Naumann ist gespannt, ob die Arznei bei der Mutter anschlägt. „Wenn es hilft, dann sofort.“

Es wirkt.

Der Arzt bestellt Melanie Volkart ins Klinikum und gelangt auch bei ihr zu der Diagnose. „Er fragte mich, ob ich bereit für ein neues Leben sei“, erzählt Melanie Volkart. Zu dem Zeitpunkt steckt sie im Referendar­iat. Sie nimmt die Tabletten. Die Symptome verschwind­en.

Melanie ruft ihre Mutter an, die schon wieder daheim ist. Aufgeregt erzählt sie ihr, dass das Mittel auch bei ihr hilft. Alles fühle sich auf einmal so leicht an. Es ist das letzte Gespräch zwischen ihnen. In der Nacht nimmt sich die Mutter das Leben.

„Sie kam mit diesem neuen, unerwartet­en Leben ohne Behinderun­g nicht zurecht“, glaubt Volkart. „Klar hadere ich mit ihr, warum sie das getan hat. Endlich hätten wir Dinge unternehme­n können, wie es Mütter mit Töchtern eben machen. Zum Shoppen gehen oder so.“Doch sie habe gelernt, die Entscheidu­ng der Mutter zu akzeptiere­n.

Auch für sie selbst ändert sich alles. Melanie Volkart, damals Anfang 30, kauft sich Turnschuhe und fängt an zu joggen. „Für mich ist das immer noch wie fliegen.“Sie geht feiern, tanzen, lernt Snowboarde­n, trägt hohe Schuhe, belegt einen

Die Krankheit war in der Familie ein Tabu-Thema

Heute sagt die Tochter: Ich weiß noch nicht, wer ich bin

Highheel-Kurs. Volkart ist so hungrig auf das Leben, dass sie gar nicht weiß, was sie zuerst machen soll. Stefan kann bei diesem Tempo irgendwann nicht mehr mithalten.

Die Ehe zerbricht. Professor Naumann sagt, man dürfe die Anpassung an ein völlig neues Leben nicht unterschät­zen. „Mit so einem Therapie-Erfolg wird ein langer innerliche­r Prozess in Gang gesetzt. Es dauert viele Jahre, bis er psychisch kompensier­t ist.“

Melanie Volkart erfüllt sich ihren Traum. Sie wird Lehrerin. In München unterricht­et sie verhaltens­auffällige Kinder. Diesen Kampf hat die 40-Jährige geschafft.

Die Single-Frau lebt jetzt nur für ihren Beruf, arbeitet teilweise bis spät in die Nacht, schläft kaum. Oft ist sie nur glücklich, wenn sie viel arbeitet. „Ich weiß noch nicht, wer ich bin und wo im Leben mein Platz ist.“Melanie Volkart weiß aber, sie muss weiter für sich kämpfen.

* Name geändert TV Auch der Sender NDR berichtete über den Fall, bei Youtube unter „Abenteuer Diagnose Segawa-Syndrom“

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Einst kroch sie auf allen vieren aus der Uni, so schlecht ging es Melanie Volkart. Später benötigte sie sogar einen Rollator. Heute liebt sie es, joggen zu gehen – wie am Sonntag entlang der Isar in München.
Foto: Ulrich Wagner Einst kroch sie auf allen vieren aus der Uni, so schlecht ging es Melanie Volkart. Später benötigte sie sogar einen Rollator. Heute liebt sie es, joggen zu gehen – wie am Sonntag entlang der Isar in München.
 ?? Foto: Klinikum Augsburg ?? Professor Markus Naumann ist Chefarzt der Neurologie.
Foto: Klinikum Augsburg Professor Markus Naumann ist Chefarzt der Neurologie.

Newspapers in German

Newspapers from Germany