Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (23)
DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
as ganze Gericht ist zerschmolzen vor Mitleid. Ein Hochgenuß, wie rücksichtsvoll der Herr Vorsitzende beim Verhör war. Ihr die Antworten hübsch schmackhaft in den Mund gelegt. Und der Herr Staatsanwalt Andergast, Zucker und Honig. War sie doch beinah ebenfalls dem Unhold zum Opfer gefallen. Die reine Jungfrau dem nichtswürdigen Verführer. Auf einmal hat keiner mehr was von keinem Klatsch gewußt. Daß ihr die Herren Professoren und Beamten und Offiziere und Studenten nicht einen Fackelzug gebracht haben, war das reinste Wunder. Auf einmal war sie die weiße Taube, und er, lieber Gott, dafür war jedes Wort zu gut. Nur das Volk . . . das Volk hat anders gedacht. Nach dem Urteil hat’s ein paar Stunden lang bös ausgesehen für die Jahn. Nun, das beiseite. Aber was ich sagen wollte … was wollt ich denn sagen? Ja so: Waremme … ohne Waremme, ohne Waremmes Zeugenschaft… Sie verstehen… hätte die Sache anders geendet.
Der Mann hat uns geliefert. Der Mann, sag ich Ihnen, wandelt unter einem Fluch. Oder es gibt keinen Gott im Himmel.“(Da war plötzlich wieder das biblische Pathos; Etzel senkte den Kopf.) „Der Mann… ich hoffe, sein letztes Stündlein hat noch nicht geschlagen, ich hoff es zu unserm Besten und auch zu seinem, denn um sein Sterben könnt er nicht beneidet werden. Die andere, von der will ich nicht reden. Es kommt mir vor, sie hat bereits ihren Lohn dahin. Man hat allerlei gehört. Aber der Mann… den erwartet der irdische Richter noch. Jawohl. Jawohl.“
Etzel sah auf die Uhr. „Ich muß heim“, sagte er erschrocken. Der Alte nickte. Etzel fragte ihn, ob er einige von den Zeitungen mitnehmen dürfe, er wolle sie lesen. Der Alte nickte. Er half ihm beim Aussuchen. Als Etzel schon im Hausgang war, lief er ihm nach, steckte ihm noch ein paar Broschüren zu und beschwor ihn, darauf aufzupassen und keine zu verlieren. „Ich geb schon acht“, versprach Etzel und setzte sich in einen leichten Trab, um den Zug zu erreichen.
Viertes Kapitel
Denselben Abend und am folgenden Sonntag den Nachmittag und Abend verbrachte Etzel mit der Lektüre der verjährten Zeitungsartikel. Er sagte sich: ich prüfe, und blieb kühl wie ein mäßig neugieriger Zuschauer. Da es sich um Zeitungsschreiberei handelte, war er doppelt auf der Hut. Es hatte alles den Geschmack von Roman. Er liebte im allgemeinen Romane nicht. Gelehriger Schüler Melchior Ghisels, unterschied er scharf zwischen Gedicht und Vision und der von einem Zweckwillen vergewaltigten Wirklichkeit.
In dieser Beziehung war er nüchtern bis zur Gefühllosigkeit. Daher war ihm das novellistisch aufgeschmückte Tagesereignis ein Greuel. Gespensterhaft, achtzehn Jahre später angesehen, eine geschminkte Leiche, die tanzt. Viele einzelne Züge blieben davon unberührt, sie entsprachen der Wahrheit der Natur, der keine Zurichtung etwas anhaben kann.
In den nächsten Tagen – es lag noch eine ganze Ferienwoche vor ihm – entfaltete er eine heimliche Geschäftigkeit, die in dem Bestreben wurzelte, sich neue Nachrichten und Anhaltspunkte zu verschaffen, Stützen für die Erzählungen des alten Maurizius, deren subjektive Beschaffenheit unverkennbar war, Bestätigung jener Zeitungsberichte, insofern er sie, nach der einen oder der andern Seite, im Verdacht der Übertreibung und Verzerrung hatte. Aber wo solche Stützen, solche Bestätigungen suchen? Und wenn er sie fand, was berechtigte ihn, sie für verläßlicher zu halten, als was er bisher erfahren hatte? Er traute dem Gedächtnis der Menschen nicht. Er wußte aus Instinkt, daß jede Wahrheit vergessen wird, um einer angenehmen Illusion Platz zu machen. Das war es ja, was ihm die tiefe Abneigung gegen die Geschichte einflößte.
Er mußte immer lächeln, wenn alte Leute aus ihrer Vergangenheit etwas zum besten gaben. Es war so ergötzlich, so leicht zu sehen, wie sie „dichteten“und wieviel mehr Vergnügen ihnen das halb Gelogene bereitete als das ganz Wahre, von dem sie vermutlich gar nichts mehr wissen wollten. Der einzige Mensch, der ihm bei seinen Nachforschungen hätte behilflich sein, ihn über die Anfangszweifel hätte erheben können, war sein Vater. Aber der bloße Gedanke war absurd, ihn, ihn darum zu bitten.
Niemals würde Trismegistos die Berechtigung auch nur einer Frage anerkennen, die veilchenblauen Augen würden verwundert gefrieren unter dem Eindruck ungehöriger Dreistigkeit. So blieb nichts übrig, als in der Stille zu sammeln und das Gesammelte zu sieben und zu vergleichen.
Die Rie hatte einen Bekannten, der ein- oder zweimal wöchentlich zu ihr kam, einen Kanzleirat Distelmayer, der lange Jahre bei Gericht gewesen und seit dem Krieg pensioniert war, ein Mann, dem es schlecht ging, weil er wie alle auf Ruhegehälter gesetzten Beamten kaum das tägliche Brot hatte.
Die Rie hob immer das Mittagessen für ihn auf, wenn er sich angesagt hatte; dann begann jedesmal das nämliche Spiel: er lehnte die Einladung mit den entschiedensten Ausdrücken ab, behauptete, soeben erst eine ausgiebige Mahlzeit zu sich genommen zu haben, gab dann, scheinbar ermüdet durch das Zureden, nach und verzehrte schließlich, was ihm aufgetragen wurde, Suppe, Fleisch, Gemüse, Torte, mit Stumpf und Stiel und jammervoll ersichtlicher Genugtuung.
Bisweilen trat Herr von Andergast in den Flur, wenn jener gerade kam oder ging. Da verbeugte sich der Kanzleirat mit einer Devotion, die dem zuschauenden Etzel widrig war, indes Herr von Andergast sich leutselig bezeigte, dem Kanzleirat mit zwei Fingern auf die Schulter klopfte und fragte, wie man unter Kollegen fragt: „Nun, wie geht’s, wie steht’s, mein guter Distelmayer?“
Obwohl Etzel wenig Hoffnung hegte, von dem etwas geschwätzigen Männlein Dienliches zu erfahren, machte er den Versuch; er spann ihn in seine Treuherzigkeiten ein, deren Wirkung auf die Erwachsenen er erprobt hatte, er ließ sich herab zu ihm, und das war eine andere Herablassung als die des Herrn von Andergast, schon daraufhin angesehen, daß ein sehr junger Mensch von geistigem Stolz sich herablassen muß, wenn er es mit so verbrauchten und gedrückten Personen von der Art des Kanzleirats zu tun hat; er stellte das Gespräch zuerst auf Scherz ein, erlaubte dem Alten, um ihn zutraulich zu machen, kleine Neckereien, kleine, platte Anzüglichkeiten, wie sie bejahrte Leute gegen Knaben gern äußern, gab der Unterhaltung dann ohne Mühe die Richtung ins Ernsthafte, ließ von ungefähr den Namen Maurizius fallen, sah, daß der Kanzleirat aufmerksam wurde, erzählte, daß ihm jemand viel von der Sache erzählt habe, daß er sich dafür interessiere, daß es zwischen ihm und einem Freund darüber zu Diskussionen gekommen sei.