Runterkommen! Das ist gar nicht so einfach
Was passiert mit Büromenschen, die in den Bergen den Stress loswerden wollen? Eine ganz persönliche Berg-Geschichte, die mit Handy-Verzicht beginnt
Was für ein Horror-Tag! Völlig chaotisch gepackt, völlig verschwitzt aus dem Zug und jetzt völlig müde im Auto auf dem Weg nach Livigno. Was soll das werden, so gehetzt und schlecht gelaunt? Fünf Tage Berge, irgendwo in den Terminkalender hineingequetscht, eigentlich unverantwortlich. Das haben die Berge nicht verdient, das haben die anderen im Auto nicht verdient. Wir fahren zu viert, ich kenne Bene, der das alles organisiert hat und fährt. Auf der Rückbank sitzt Katha, mit der ich schon am Großvenediger war, und Gregor, ein neues Gesicht. Bene ist Optimist und stimmt uns ein: „Ihr werdet Livigno erliegen.“Nicht nur wegen der Berge, auch der Ort hätte italienischen Charme.
Ein paar Stunden später gewittert es in Livigno. Wir sitzen in einem Restaurant an dem Stausee, den die Schweizer so geschickt an die Staatsgrenze gebaut haben, dass der See auf italienischer Seite liegt und der Strom auf Schweizer Seite fließt. „Bene, wie war das mit Livigno und der inneralpinen Trockenzone?“Dann nehmen wir Dasha und Stephan, die aus Zürich gekommen sind, in unsere Runde auf. Als wir später feststellen, dass in diesem kleinen und hoch gelegenen Bergort mit seinen 6000 Einwohnern auch um halb zwei Uhr nachts noch Bars offen haben, sind wir dem Charme schon erlegen. Der Stress am Morgen hat es nicht mit über die Alpen geschafft.
Einen Tag später fahren wir mit dem Carosello 3000, der großen Seilbahn, in die Höhe. Eine Frühfahrt nur für uns, jetzt eine große Gruppe aus Tschechien, Holland
und vor allem Italien. Normalerweise bringt der Lift im Winter Skifahrer und im Sommer Mountainbiker und Wanderer im Eilverfahren nach oben. Heute heißt es Yoga im Sonnenaufgang auf annähernd 3000 Metern. Katha schimpft. Diesen Programmpunkt habe sie sich von Anfang sparen wollen, sie brauche kein Yoga-Gequassel, um Berge zu sehen.
Die große Gruppe postiert sich in einem weitläufigen Kreis auf 2800 Meter Höhe. Die Sonne steht schon am Himmel, in der Ferne ist der Ortler zu sehen. Das Skigebiet schaut aus wie eine Landschaft nach der Katastrophe, eine unansehnliche Steinwüste, die schönen Berge sehen wir auf der anderen Talseite.
Laura leitet den Kurs und sagt uns, dass wir unsere Smartphones ausschalten sollen. Dieses Yoga am Berg solle auch dem „digital detox“dienen. Wenn ich gerade etwas nötig habe nach sechs Monaten Bloggen auf Instagram, dann „detox“. Ich schalte mein Smartphone aus, ich bin dabei!
Wir machen erste Gleichgewichtsübungen, und Hölle, die Übung „Baum“mit Bergschuhen an den Füßen fühlt sich wie eine Litfaßsäule an. Danach sollen wir bewusst den Weg bis zum nächsten Halt und den nächsten Übungen gehen. Nach zwei Tagen ausschließlich in der Gruppe spüre ich zum ersten Mal wieder, was es heißt, allein zu sein, die eigenen Sinne beisammen zu haben, gefasst zu sein. Was für ein Blick auf die italienischen und die Schweizer Ostalpen, was für eine klare Luft. Wobei nicht nur Katha sich weigert, das mitzumachen. Der große Pulk an Italienern unterhält sich. Na klar, das Interessanteste für den Menschen ist der Mensch.
Es wird kurioser, weil die Veranstalter es mit dem „detox“eher lax auffassen. Wir sollen nach den zweiten Übungen bewusst die Farben am Berg wahrnehmen. Und ja, jetzt, wo die Skigebietswüste hinter uns liegt, zeigt die Bergwelt in 2800 Metern Höhe ihre reizvolle Seite. Wer sich nicht unterhält, sondern nach links und rechts schaut, entdeckt Pflanzen zwischen den Steinen und dem Geröll, was für eine Freude. Nur Vögel sind keine zu hören, stattdessen eine Drohne, die die morgendliche Yoga-Übung oben am Berg aus noch luftigerer Höhe festhalten soll. Das kleine Ding surrt ganz schön laut, vorne unterhält Laura sich mit den Bergführern. Wir sind in Italien, da nimmt es auch die YogaLehrerin mit ihren eigenen Übungen nicht so genau.
Aber nur so tun als ob, das ist blöd. Es ist schon verrückt, dass große Reisegruppen die sicherste Möglichkeit sind, die Aufmerksamkeit für die Umgebung gegen null zu senken. Also Sinne auf, auch am Schluss, als alle barfuß sitzen und Laura etwas vorliest: „Wenn Du ein Poet bist, wirst Du deutlich sehen, dass eine Wolke in diesem Blatt Papier schwebt. Ohne die Wolke wird es keinen Regen geben; ohne Regen können die Bäume nicht wachsen; ohne Bäume können wir kein Papier machen.“Mit den Worten des ZenMeisters Thích Nhat Hanhs möchte sie uns zeigen, dass alles mit allem zusammenhängt. Ein bisschen esoterisch klingt das jetzt schon für mich, aber wirklich widersprechen kann ich auch nicht. Wenn das alle begreifen würden, gäbe es weniger Hass auf der Welt.
Später wandern wir zurück. Wir steigen nur ein paar Meter tiefer in ein Seitental, und schon zeigt sich die Bergwelt von Livigno von ihrer verführerischsten und verschwenderischsten Seite. Weiße, gelbe, blaue und lila Tupfen auf den Wiesen, alles ist grün, der Schnee gerade geschmolzen, das große Frühlingsfest der Natur. Die Sinne sind geschärfter, die Bergwelt näher gerückt, aber wir unterhalten uns auch. Dasha, die in Zürich lebt, aus Sibirien stammt und in Deutschland aufgewachsen ist, erzählt, dass sie vor Jahren begonnen hat, zu meditieren. Spontan verabreden wir uns für den nächsten Morgen auf dem Hotelbalkon im Hochparterre, mit Blick auf die Nachbarhauswand zu meiner ersten Übung. Wenn Bene sagt, dass Livigno magisch sei, muss ich ausprobieren, ob das stimmt.
Wir sitzen im Schneidersitz, eine Smartphone-App sagt uns, was wir zu tun haben, die Hände in den Schoß legen, die Handflächen nach oben, die Augen schließen, einatmen und ausatmen, uns auf unseren Atem konzentrieren, die Gedanken kommen und gehen lassen, sobald wir merken, dass wir uns nicht mehr auf das Atmen konzentrieren. Die Zeit gerinnt dabei nicht, sie wird durchlässig. Minuten vergehen, die Kirchturmglocke läutet, irgendwo rattert etwas in Livigno, der Ort erwacht langsam. Vögel zwitschern, immer wieder muss ich mich zurückdirigieren. Und: Es fühlt sich gut an, die ideale Übung für einen Menschen mit hektischem Beruf.
Aber was passiert hier gerade mit mir? Als Bene im Auto von dem besonderen Charme geschwärmt hat, habe ich mir das anders vorgestellt. Da hieß es noch, Livigno gehöre zu den vier Duty-Free-Orten Europas, ein Berg- und Shopping-Paradies. Und ich dachte, dass genau das meine Highlights werden. Aber jetzt entpuppt es sich als ein Flecken Erde, von dem rätselhafte Kräfte ausgehen.
Es steht unsere größte Tour an – auf den Cima Cavalli. Eine lange, oben auch ausgesetzte und kraxelige Tour. Lele, unser Bergführer, lässt uns beim Loslaufen spüren, dass er in seiner Freizeit Berge hochrennt. „Also langsamer, ein bisschen langsamer, Lele“, damit die Kraft auch oben noch vorhanden ist. Wir sind zu zehnt; Dasha, Katha, Bene und ich gehören anfangs zu den Bremsern, während die anderen das schnelle Tempo mitgehen. Besser die Kräfte für oben sammeln.
Während unserer ersten längeren Pause erzählt Dasha, dass ihr nächstes größeres Lebensziel das Matterhorn sei. Freunde von ihr hätten das gerade geschafft. Ob sie schon öfter solche Touren wie diese hier gemacht habe? – „Nein“, sagt sie lachend. „Aber mit Training müsste das Matterhorn doch in fünf Jahren möglich sein?“– „Na, klar.“Später wird sie von Lele ans kurze Seil genommen, wenn die Kletterstellen und die ausgesetzteren Passagen kommen.
Je länger die Tour auf den Cima Cavalli dauert, desto schöner wird sie. Erst geht es über einen breitgeschwungenen Grat, später umrunden
wir das felsige Gipfelmassiv. Erst schaut der Felsblock unbesteigbar aus, von der Rückseite lässt sich aber ein Weg erahnen. Es geht auf und ab, erst auf einen Nebengipfel, dann endlich oben: 2991 Meter, höher als die Zugspitze. Bergheil!
Alle genießen den Ausblick. Da, in diesem Tal waren wir gestern. Dort hinten irgendwo im Dunst liegen Piz Bernina und Piz Palü. Kurz bevor wir gehen wollen, hat Lele einen Steinadler entdeckt, der kreist, wo wir vorher aufgestiegen sind. Und mit jeder Umdrehung gewinnt er an Höhe, kommt uns näher, nimmt die Thermik direkt über unserem Gipfel auf, was für ein Schauspiel, was für eine Eleganz. Die Schwerkraft wird aufgehoben, ein Königreich für ein Teleobjektiv!
Auf dem Abstieg erzählt Katha, wie sie sich vergangenes Jahr bei einer Skitour das Kreuzband gerissen hat, in einer Abfahrt, die sie nie machen wollte, in die sie der Bergführer genötigt hat. Und dann hat der Bergführer nur zwei Sätze mit ihr gesprochen, hat sie liegen gelassen und ausschließlich einen Landungsplatz für den Helikopter präpariert, statt ein paar Worte mit ihr zu wechseln, wo ihr es so schlecht gegangen ist. Was für eine Art! Das geht doch nicht. Oben allein lassen, das ist schlechter Himalaya-Stil.
Weil wir anfangs so langsam waren, sind wir nachmittags natürlich spät dran. Und langsam lassen die Kräfte bei einigen nach, ein Stolperer hier, ein Stolperer dort – und Katha und ich fachsimpeln darüber, dass der Abstieg immer das Schwierigste ist, wenn die Kräfte schwinden, die Konzentration nachlässt, der Gipfel als Antriebsmotiv wegfällt, wird es gefährlich. Dann kommt es zu Unfällen und Unglücken. Bene erzählt, wie wir da runterhatschen, wie anstrengend das am Matterhorn gewesen sei – mit seinem Bruder und ohne Bergführer. „Im Abstieg ist mir das Steigeisen gebrochen.“Dadurch habe alles ewig lange gedauert. Jeder Schritt musste voll konzentriert gesetzt werden.
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Katha schimpft, sie brauche kein Yoga-Gequatsche
Ein Steinadler kreist direkt über unserem Gipfel