Médée im Internet-Café
Regisseur Simon Stone inszeniert Luigi Cherubinis Oper um die antike Kindsmörderin im Hier und Heute. Das ist schlüssig, geht aber über Salzkammergut-Kitsch nicht hinaus
Salzburg Zäh hält sich der Verdacht, dass die Oper eine Kunst von gestern sei, die für uns Menschen des 21. Jahrhunderts kaum mehr über Relevanz verfügt. Eine Sicht, die Opernregisseuren steter Ansporn ist, das Gegenteil zu beweisen, gerne mithilfe des Handgriffs, die theatrale Handlung ins Heute zu verlegen. Schon gar, wenn das aufzuführende Werk bereits das ein oder andere Jahrhundert alt ist, und noch viel mehr, wenn die darin verhandelte Geschichte auf mythische Erzählung zurückgreift. Wie im Falle von Luigi Cherubinis „Médée“: 1797 in Paris uraufgeführt, spielt die Oper die antike Tragödie jener Frau neu durch, die, weil ihr Mann sie wegen einer Anderen verlässt, in einem exzessiven Racheakt die gemeinsamen Kinder tötet.
Für die Salzburger Festspiele hat Simon Stone, der hier vor zwei Jahren schon Aribert Reimanns „Lear“auf die Bühne brachte, die Cherubini-„Medea“nun ganz jetzig und hiesig herangezoomt. Im Großen Festspielhaus beginnt das bereits mit der Vorgeschichte der eigentlichen Opernhandlung, die der Regisseur während der Ouvertüre als Schwarz-Weiß-Film erzählt: Médée, Jason und die beiden Kinder bilden eine wohlhabend-glückliche Familie im Salzkammergut, doch dann ertappt Médée ihren Mann beim Fremdgehen, es kommt zur Scheidung, Médée, offenbar Osteuropäerin, fliegt zurück in ihre Heimat, die Kinder aber bleiben bei Jason und seiner Neuen, Dircé, deren Vater Créon hier im Salzburgischen was zu sagen hat, ja vielleicht sogar der Landeshauptmann ist.
Klingt nicht unplausibel. Entscheidend aber ist, wie die Geschichte erzählt wird, an deren Upperclass-Situierung die einsetzende Bühnenhandlung nahtlos anknüpft. Es ist die Ästhetik des Werbeclips, derer sich Simon Stone bedient. Schon gleich die erste Szene seines Vorgeschichtskinos – Villen-Interieur mit Panoramablick auf Berge und See, vor der Garage wartet der SUV, die Kinder tollen ausgelassen am Frühstückstisch und die Kamera ist ganz nah dran an der glücklichen Miene der Mutter – könnte nicht besser erfunden sein für eine Lebensversicherungsreklame. Und so geht es weiter, jedes Bild ein Klischee. Den tragisch sich ballenden Konflikt, die Hochzeit Jasons mit Dircé und die Rückkehr der schmerzgepeinigt-rachehungrigen Médée, bricht Stone herunter auf ein quotenwirksames Lifestyle-Melodram, in dem mittels BühnenSplitting auf der einen Seite Jason und Dircé sich ein superschickes Liebesbett teilen, während auf der anderen die verstoßene Médée aus einem schäbigen Internetcafé heraus versucht, den Kontakt zu ihrer ExFamilie aufrechtzuhalten.
Die in französischer Sprache gesungene Salzburger „Médée“kommt im Unterschied zur originalen Fassung ohne gesprochene Dialoge aus. Allerdings gibt es, von Stone neu getextet, drei aus dem Off gesprochene Telefonnachrichten an Jason, während derer das Orchester pausiert. In ihnen tut Médée auf französisch mit deutlichem Ostakzent ihre Seelennot kund, beseufzt ihre fortdauernde Liebe und ihre Sehnsucht nach den Kindern: „Es macht mich krank, mit den Kindern zu skypen.“In solchen Was-tutdie-moderne-Frau-Hülsen wiederholt sich, was auch für die gefilmten wie gespielten Szenen gilt: Sie sind Kitsch.
Gewiss muss man der Regie zudass sie nach ihrer Maßgabe stimmig ist, wozu die genau beobachteten Bühnenbilder (Bob Cousins) und Kostüme (Mel Page) aus dem Salzburger Happy-few-Milieu Erkleckliches beitragen. Doch der Trennungsschmerz und die Trennungswut, die in Gestalt der Médée vorgeführt werden, sind von zigtausendfach-alltäglicher Art. Was aber bringt diese Frau dazu, über das konventionelle Maß hinauszugehen und ihre Kinder zu morden? Das plausibel zu machen, bleibt Simon Stone schuldig. Und schon gar nicht wird der verwässerte dramatische Gehalt seiner „Médée“dadurch neu verfestigt, dass ein bisschen Asylthematik in die Inszenierung hereingeholt wird, indem die zurückkehrende Titelfigur sich am Flughafen von einem politisch hartleibigen Créon eine letzte befristete Aufenthaltserlaubnis ertrotzt.
Bei dieser Regie ist Elena Stikhina kein Vorwurf zu machen, dass sie ihre Médée nicht als Psychogramm eines emotionalen Extremzustands anlegt, der letztlich in den Wahnsinn kippt – denn was anderes wäre die Tat? Die russische Sopranistin beschränkt sich auf den Bereich herkömmlicher Wut- und Rache-Affekte. Die freilich gelingen ihr eindrucksvoll, mit einem über die Stimme transportierten hohen Siedegrad, mit klar gesetzten feurigen Spitzen, nicht zuletzt ohne alle Ermüdung bei dieser kräftezehrenden Riesenpartie. Nur eben Médée als Furie (am Ende zündet sie an einer Tankstelle sich und die Kinder an) – die bleibt ungesungen. Trotzdem gerät gegenüber Stikhinas auch darstellerischer Verausgabung der Jason des ein wenig gepresst singenden Pavel Cernoch blass. Einen wuchtigen Gegenpart bildet dagegen Vitalij Kowaljow, der als Créon das heraufziehende Unheil zu wittern scheint und mit druckvoller Bassgewalt dagegen vorzugehen gewillt ist.
Wenn es in dieser am Ende bejubelten Festspielproduktion aber jegutehalten, manden gibt, der die Fallhöhe der Figur und damit zugleich den Rang dieser Oper unbedingt hochzuhalten gewillt ist, dann ist es Thomas Hengelbrock im Zusammenspiel mit den Wiener Philharmonikern. Schon die Ouvertüre ist eine Flammenschrift, aber auch in den Duetten zwischen Médée und Jason beziehungsweise Créon weiß der Dirigent den schicksalhaften Knoten beständig fester zu zurren, selbst die wenigen Momente des Innehaltens lädt er mit flackernder Spannung auf – in dieser Wiedergabe meint man Brahms zu verstehen, wenn er Cherubinis Oper „das Höchste in dramatischer Musik“zuerkannte.
Es ist das eigentliche Drama dieser Salzburger „Médée“, dass ihre musikalische Realisation keine würdige Entsprechung in der Szene findet.
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Aufführungen Bis 19. August noch fünf weitere Male. Eine Aufzeichnung ist am 15. August um 20.05 Uhr in BR Klassik zu hören.