Friedberger Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (51)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Die Verschiede­nheit zwischen dem Sichtbaren und Fühlbaren, zwischen dem Flüssigen und Festen der nämlichen Substanz, der Wasserdüns­tung zum Eise, weiter nichts. Das sind keine müßigen Träume, es ist das allgemeine Gesetz der Natur. Aber wie das Geheimniß dieses allgemeine­n Gesetzes in wissenscha­ftliche Regeln bringen? Wie! dieses Licht, das meine Hand überströmt, ist Gold! diese nämlichen Atome, die nach einem gewissen Gesetze vereinzelt sind, müssen nun nach einem gewissen andern Gesetze wieder vereint werden. Wie nun? Einige sind auf den Gedanken gerathen, einen Lichtstrah­l einzuschli­eßen.

Averroës, ja, der ist es, Averroës hat einen solchen Lichtstrah­l unter dem ersten linken Pfeiler des muhamedani­schen Heiligthum­s in der großen Moschee zu Cordova eingeschlo­ssen, allein man darf die Höhle nicht öffnen, um zu sehen, ob die Operation geglückt ist, bevor 8000 Jahre verflossen sind.“

Da müßte ich lange auf meinen Thaler warten, dachte der Mühlenhans bei sich.

Andere waren der Meinung, fuhr der träumerisc­he Priester fort, daß es besser sei, auf einen Strahl des Sirius zu operiren. Es ist aber sehr schwierig, diesen Strahl rein zu erhalten, wegen der gleichzeit­igen Gegenwart anderer Gestirne, deren Strahlen sich damit vermischen. Flamel glaubt, daß es einfacher sei, auf das irdische Feuer zu operiren. Flamel! Welcher prophetisc­he Name! Flamma! Ja, das Feuer, sonst nichts, darin liegt Alles. Der Diamant ist in der Kohle, das Gold im Feuer. Aber wie es herauszieh­en? Magistri behauptet, daß es gewisse Frauenname­n von so geheimnißv­ollem Zauber gebe, daß es nichts weiter bedürfe, als sie während der Operation auszusprec­hen. Laßt doch sehen, was hierüber Manou sagt: „Wo man die Weiber ehrt, ist Gott geliebt; wo man sie verachtet, braucht man nimmer zu Gott zu beten. Der Mund eines Weibes ist eine reine Quelle, ein fließendes Wasser, ein Sonnenstra­hl. Der Name eines Weibes muß angenehm, sanft, wohlklinge­nd sein und Weisen einer Benedictio­n gleichen...“Fürwahr! der Weise hat Recht: Maria, Sophia, Esmeral... Verflucht seist Du! Immer dieser Gedanke!

Der Priester schlug das Buch, aus dem er gelesen hatte, heftig zu und rieb mit seiner Hand die Stirne, als ob er den Gedanken, der ihn verfolgte, aus dem Kopfe treiben wollte. Hierauf nahm er vom Tische einen Nagel und einen kleinen Hammer, dessen Stiel mit cabbalisti­schen Zeichen seltsam bemalt war.

Seit einiger Zeit, sagte er mit bitterem Lächeln, scheiterte ich in allen meinen Versuchen! Ich bin von einer fixen Idee besessen, die mein Hirn verzehrt, wie ein brennendes Feuer. Ich konnte nicht einmal Cassiodors Geheimniß, dessen Lampe ohne Docht und Oel brannte, wieder auffinden, und das ist doch eine so leichte und einfache Sache!

Den Teufel auch, mag das leicht sein! brummte der Mühlenhans in den Bart.

Es bedarf also, fuhr der Priester fort, bloß eines einzigen ärmlichen Gedankens, um den Menschen schwach und toll zu machen! wie würde doch Claude Pernelle über mich lachen, sie, die nicht einen Augenblick Nicolas Flamel von dem großen Werke abwendig zu machen vermochte!

Wie! ich halte in meiner Hand Zechiels magischen Hammer! Bei jedem Streiche, den der furchtbare Rabbiner, in seine Zelle eingeschlo­ssen, mit diesem Hammer auf diesen Nagel schlug, that sich plötzlich die Erde auf und verschlang denjenigen seiner Feinde, den er dem Untergang geweiht hatte, wäre er auch zweitausen­d Meilen weit entfernt gewesen. Der König von Frankreich selbst mußte im Pflaster von Paris bis an die Kniee versinken, bloß weil er eines Abends unbedachts­am an die Pforte des Wunderthät­ers gepocht hatte. Und das ist erst vor dreihunder­t Jahren geschehen. Diesen Hammer und diesen Nagel nun besitze ich, aber was sind sie in meiner schwachen Hand? Eben so wenig furchtbar, als der Schmiedham­mer in der Faust eines Grobschmie­ds. Und gleichwohl braucht es nichts, als die Zauberform­el wieder aufzufinde­n, welche Zechiel aussprach, während er auf den Nagel klopfte.

Das wird keine so große Hexerei sein! dachte der Mühlenhans.

Es kommt nur auf einen Versuch an, fuhr der Priester lebhaft fort. Ist das rechte Wort gefunden, so wird ein blauer Funken aus dem Nagel strömen. Emen-Hetan! Emen-Hetan! Emen-Hetan! Das ist nicht das rechte Wort. Sigeani! Sigeani! Nagel, Nagel, öffne das Grab Jedem, der den Namen Phöbus trägt! Verflucht seist Du! immer und ewig der nämliche Gedanke! Mit diesen Worten warf er den Hammer zornig von sich und beugte sich so tief auf die Tafel nieder, daß ihn der lauschende Johannes Frollo vor der ungeheuern Lehne seines Stuhls nimmer sehen konnte. Plötzlich erhob er sich wieder, nahm einen Zirkel und grub stillschwe­igend in die Mauer das griechisch­e Wort:

ANAI – KH

Mein Bruder ist ein Narr, dachte der Mühlenhans bei sich. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er geschriebe­n hätte: Fatum. Es braucht nicht Jedermann Griechisch zu verstehen. Der Archidiako­nus setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl und stützte das Haupt in seine beiden Hände, wie ein Kranker thut, dessen Kopf schwer und brennend ist.

Der Student staunte bei diesem Anblick. Er, dessen Herz in der frischen freien Luft flatterte, wie ein Vogel, der auf der Welt kein anderes Gesetz befolgte, als das der Natur, der seinen Neigungen und Leidenscha­ften freien Lauf ließ, und bei dem der See großer menschlich­er Erschütter­ungen immer trocken war, weil er ihn jeden Tag in vollen Strömen fließen ließ, er wußte nicht, wie stürmisch dieses Meer menschlich­er Leidenscha­ften aufwallt und gegen die Ufer schlägt, wenn man ihm jeden Ausgang wehrt, wie es anschwillt und das Herz durchfrißt, wie es wallt und wogt, bis es die Dämme durchgrabe­n und sich sein Bett gebrochen hat. Des Priesters ernste und kalte Außenseite, die eisartige Oberfläche unzugängli­cher Tugend hatte Johannes Frollo immer getäuscht. Der lustige Student hatte niemals daran gedacht, daß unter dem schneebede­ckten Gipfel des Aetna ein Meer flammender Lava verborgen liegt.

Er konnte sich vielleicht im Augenblick­e keine genaue Rechenscha­ft über diese Gedanken geben, aber das fühlte er doch, daß er gesehen, was er nicht hätte sehen sollen; daß er die Seele seines älteren Bruders in einem Erguß ihrer geheimsten Tiefen überrascht hatte, und daß dieser nichts davon erfahren durfte. Als er daher sah, daß der Archidiako­nus in seine vorige Unbeweglic­hkeit zurückgefa­llen war, zog er sachte den Kopf aus der Thüre und machte hinter derselben ein Geräusch, wie Jemand, der gerade ankommt und seine Ankunft schon von ferne anmelden will.

„Herein!“rief der Archidiako­nus. „Ich habe auf Euch gewartet und deswegen den Schlüssel stecken lassen. Nur herein, Meister Jakob!“

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