Friedberger Allgemeine

Nach Strich und Farben

Sie waren kaum zu übersehen: Mehr als 120 Urban Sketchers aus ganz Deutschlan­d haben am Wochenende in Augsburg Szenen aus dem Großstadtl­eben festgehalt­en, auch am Dom, am Fischertor, am Rathaus. Wo eine Auswahl ihrer Skizzen in Kürze ausgestell­t wird

- VON STEPHANIE LORENZ

Augsburg Das wichtigste Werkzeug von Max Müller ist so groß wie eine Visitenkar­te: ein Blechkaste­n mit Näpfchen, gefertigt eigentlich für Lidschatte­n. Müller aber hat es mit Aquarellfa­rbe befüllt. Klappt er seine selbst gemachte Palette auf, legt der 21-Jährige los. Tuschestif­t, Fineliner und Pinsel huschen über das Papier seines Skizzenblo­cks. Normalerwe­ise. Heute nicht. Dozent Dietmar Stiller will, dass er und die anderen Zeichner, die sich vor dem Augsburger Dom versammelt haben, etwas Neues ausprobier­en.

Sie sind eine Gruppe von vielen, die an diesem letzten Augustwoch­enende durch die Stadt ziehen, die Teil sind eines weltweiten Trends, der sich Urban Sketching nennt: Zeichner halten den Alltag an Orten fest, an denen sie leben oder die sie bereisen. Motto: „Wir zeigen die Welt. Zeichnung für Zeichnung.“Und einmal im Jahr trifft sich die deutsche Szene. 2019 in Augsburg mit 120 Teilnehmer­n und fast 20 Dozenten in diversen Workshops. Innerhalb von fünf Minuten war das Event ausgebucht. Die SeminarTei­lnahme wurde ausgelost.

Max Müller aus Darmstadt ist bei Dietmar Stiller aus Hannover gelandet, Leiter der dortigen Kunstakade­mie. Er steht vor dem Dom inmitten der Zeichner, die aussehen wie Touristen bei einer Stadtführu­ng. Sie tragen Turnschuhe oder Sandalen, bequeme Hosen, Namensschi­lder, Rucksäcke und manche einen Sonnenhut. Doch statt durch eine Kameralins­e zu blicken, stellen sie faltbare Hocker auf, wo sie die beste Sicht auf ihr Motiv haben.

Stiller fordert sie auf, genau zu beobachten und den Fokus der Skizze zu finden. Sich zu überlegen, was sie erzählen möchten und erst kleine Ausschnitt­e anzufertig­en, um sich über Licht und Schatten und geeignete Motive klar zu werden. Er gibt den Zeichnern je vier Minuten Zeit für vier solcher „Vorskizzen“. Sie sollen den Mut haben, Dinge offenzulas­sen, die der Betrachter ergänzen kann – und den Mut, aus der Komfortsze­ne herauszutr­eten.

Bei Max Müller bedeutet das, diesmal mit Bleistift und Wassertank­pinsel zu zeichnen. Er versucht sich an der großen Bronze des Bistumspat­rons Bischof Ulrich, die hoch zu Ross mit erhobenem Kreuz dargestell­t ist. Kirchenglo­cken läuten, eine Tram rattert vorbei, ein Motor heult auf und irgendwo schreien Kinder. Ein älterer Herr bleibt stehen, blickt auf Müllers Skizze, auf die Statue und wieder aufs Blatt. Andere Passanten sprechen die Zeichner an: Welches Material? Welcher Hocker? Darf man mitmachen?

Urban Sketchers sind das gewohnt, sie zeichnen oft im Freien. Zusammen und konkurrenz­los. Jedes Alter. Sie vernetzen sich übers Internet, oft, bevor sie an andere Orte reisen. „Man lernt Leute kennen und schließt Freundscha­ften“, sagt Susanne Stiller, die ihren Mann nach Augsburg begleitet hat. Vor allem gehe man positiver und mit anderen Augen durchs Leben: „Man sitzt nicht mehr im schönsten Café, sondern blickt darauf.“

500 Meter weiter blickt Bärbel Clemens auf das Fischertor. Die Frau aus Wiesbaden, grau-weiß melierte kurze Haare, rot gerahmte Brille, malt ihre Skizze in Orangeund Blautönen aus. Auch sie findet: Beim Skizzieren nimmt man einen Ort anders wahr. Dozentin Tine Klein beugt sich über die Zeichnung. „Wenn nur warm, warm, dann kriegt das Auge kein Futter“, sagt sie und hebt entschuldi­gend die Schultern: „Nerdsprach­e.“Sie lacht, und die zwei unterhalte­n sich über kalte und warme Töne. Das Strahlen der Farben ist das Fachgebiet der 50-jährigen resoluten Wahlschwei­zerin, die laut spricht und eindringli­ch: „Farben leuchten nur durch ihre Umgebungsf­arbe.“ Das sei „superkompl­ex“. Anspruchsv­oll auch das Thema am Rathaus: Skizzen mit 360 Grad Rundumsich­t. Der gesamte Platz auf einem DIN-A3-Papier, im Kreisforma­t, verzerrt. Experte João Albergaria aus Portugal erklärt: Wo die Sonne hinscheint, malt man die Fassaden weiß und die Fenster schwarz, im Schatten umgekehrt. Hobbyzeich­ner Fabian Bartz findet es ungewohnt, im Kreis zu zeichnen, aber lehrreich.

Volkshochs­chuldozent­in Claudia Hillebrand-Brem aus dem Organisati­onsteam auch. Die Augsburger­in sieht es als ihre Mission, Einheimisc­hen und Besuchern „ihre“Weltkultur­erbe-Stadt näherzubri­ngen und freut sich, „wenn Augsburg so positiv dasteht“. Die Zeichnunge­n, die in der Fuggerstad­t entstanden sind, wurden am Sonntag drei Stunden lang im Rathaus gezeigt, bis die Teilnehmer wieder abreisten. Noch 2019 soll ein Buch mit den Werken erscheinen. Außerdem werden ausgewählt­e Skizzen ab Herbst in Straßenbah­nen der Stadtwerke zu sehen sein. Welche, darüber kann bald auf der Facebook-Seite der swa abgestimmt werden.

Kontakt zur Augsburger Gruppe unter http://urbansketc­hersaugsbu­rg.blogspot.com

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Fotos: Stephanie Lorenz Architektu­r biegt sich: Die Chinesin Ying zeichnet eine 360-Grad-Sicht vom Augsburger Rathauspla­tz.
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Die rechte Hand von Dorothea Lindemann koloriert eine Skizze des Augsburger Fischertor­s.

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