Rugendas Drama von Liebe und Abenteuer
Roman Was verband den Augsburger Reisemaler J. M. Rugendas mit dem britischen Naturforscher Charles Darwin in Chile? Die Antwort von Carlos Franz klingt fantastisch
Dass der Augsburger Expeditionsmaler Johann Moritz Rugendas (1802 – 1858) und der britische Naturforscher Charles Darwin (1809 – 1882) in Chile zusammengekommen sind, ist möglich. Beide trafen dort im Juli 1834 ein, blieben aber unterschiedlich lange – Rugendas bis 1842, Darwin mit dem Vermessungsschiff „Beagle“nur bis September 1835. Eine Zusammenkunft der beiden lässt sich allenfalls aus Briefen der „Beagle“-Besatzung schließen. Doch der chilenische Autor Carlos Franz (geb. 1959) macht sie zu einem Hauptstück seines Romans, der 2016 den Literaturpreis „Mario Vargas Llosa“erhielt.
Rugendas besaß 1834 bereits Renommee durch den Tafelband seiner Brasilien-Reise (1822 bis 1825), der seit 1827 mit Unterstützung Alexander von Humboldts erschien. Darwin hingegen blieb vergleichsweise unbekannt, bis er 1839 seine „Reise um die Welt“veröffentlichte. In der kurzen Zeit seines ChileAufenthalts unternahm er auch einige Anden-Expeditionen, aber (im Widerspruch zu Carlos Franz) keine mit Rugendas. Ob der besessene Naturforscher die Zeit für eine Liebesaffäre fand, darf bezweifelt werden, mehr noch eine solche mit einer auch von Rugendas verehrten Dame. Tatsächlich pflegte der Augsburger eine enge Beziehung zu Carmen Arriagada, in deren Salon er verkehrte, der er vor Verlassen Chiles ein Album mit Zeichnungen widmete und deren Briefe an ihn bis 1851 währten. Sie war verheiratet mit dem in chilenische Dienste getretenen preußischen Oberstleutnant Eduardo Gutike. Die Carmen des Carlos Franz ist Ehefrau des kriegsversehrten Obersten Gutiérrez, den sie mit Rugendas und Darwin betrügt und der sie dennoch über alle Maßen liebt.
So ergibt sich „Das Quartett der Liebenden“, wie der deutsche Romantitel lautet. Von diesem Quartett treffen zwei Liebende im späteren Verlauf auf einer Hängebrücke aufeinander – der eben erst mit Darwin am Bergriesen Aconcagua gerettete und völlig geschwächte Rugendas und der impotente Husarenoberst Gutiérrez, der seinen Säbel zieht und ausruft: „Carmen ist schwanger!“Nur so viel sei verraten: Beide überleben, nicht aber das Baby, das Carmen im Schutz eines Kavalierskontrakts zwischen dem „kummervollen Helden“Gutiérrez und Rugendas gebären wird.
Am Aconcagua, den Darwin im Roman gerne besteigen wollte wie zuvor Humboldt den Chimborazo, ereignet sich eine ungeheuerliche Höhlen-Halluzination mit Rugendas, Darwin, einem Opferschamanen und der Mumie einer Kinderprinzessin. Das ist noch weit fantastischer als der Liebesakt von Darwin und Carmen auf einer schwimmenden Lagunen-Insel.
Eine reale Begebenheit im Leben des letzten Rugendas ist an Dramatik kaum zu überbieten: Das Unglück am 12. Februar 1838, als der im Blitzgewitter gestürzte Johann Moritz von seinem Pferd mitgeschleift und schwer am Kopf verletzt wurde. Der argentinische Autor César Aira hat das im Jahr 2000 zu einer Novelle gemacht. Carlos Franz belässt es fast nur bei dem Halbsatz, „wo dich in der Pampa fast ein Blitz erschlagen hätte“.
Franz geht es bei aller Fantasie ernsthaft um Sinnfragen menschlicher Existenz, um Glücksbegehren und Glücksverlust, um Weltverständnis durch Wissenschaft und Kunst. Was Letzteres betrifft, werden Rugendas zum „Sklaven“und schließlich „Deserteur“des Naturforschers Humboldt und Darwin gar zu dessen „Spion“erklärt. Tatsächlich aber blieb das Verhältnis zwischen Rugendas und seinem Mentor Humboldt (trotz dessen Einwand „Hüten Sie sich vor Chile!“) einvernehmlich. Noch 1854 erhielt Rugendas auf Betreiben des Berliner Gelehrten den preußischen Adlerorden. Im selben Jahr führt ihn Carlos Franz noch einmal mit Darwin zusammen – auf dessen Anwesen in Downe. Im Roman ist das nachvollziehbar, in Wahrheit nicht – so wenig wie das Bild von Rugendas als eines mit Kondomen aus Schafsdarm bewehrten Frauenhelden.
„Oder stimmt vielleicht nicht, dass...“, heißt es im Roman. Entwaffnend schreibt Carlos Franz in seinem Dank an Museen und Institutionen von Chile über Mexiko, Cambridge, München bis Moskau und St. Petersburg: Sie hätten ihm bei seinen Nachforschungen geholfen, „um kenntnisreicher lügen zu können“. Das geschieht im Dienst packender Literatur. Sie wird dargeboten in einer Art Selbstgespräch des Johann Moritz Rugendas und entfaltet große poetische, erzählerische und kompositorische Kraft. Sein Übersetzer Lutz Kliche lässt auf gut Deutsch daran teilhaben.
» Carlos Franz: Das Quartett der Liebenden, übersetzt von Lutz Kliche, Büchergilde, 480 Seiten, 26 Euro.