Bahn lässt Rollstuhlfahrer am Bahnsteig stehen
Johannes Voit muss mit dem Zug zu einer Tagung. Doch die Deutsche Bahn hat in Augsburg keinen Helfer, der ihn und seinen Rollstuhl in den Waggon bringen kann. Warum Bahnreisen für Behinderte oft ärgerlich sind
Johannes Voit ist Architekt und muss am Samstag zu einer Tagung nach Nürnberg. Dort soll er eine Rede über Barrierefreiheit im öffentlichen Raum halten. Doch nun wird der Augsburger selber ausgebremst. Voit ist Rollstuhlfahrer und will mit dem ICE nach Nürnberg reisen. Am Augsburger Hauptbahnhof lässt ihn die Deutsche Bahn aber buchstäblich am Bahnsteig stehen. Es gibt keinen Helfer, der Zeit hat, den Fahrgast samt Rollstuhl in den Zug zu bringen.
Voit sagt, er sei regelmäßig mit der Bahn unterwegs – wenn er denn mitgenommen wird. Denn als Rollstuhlfahrer steht er öfter vor erheblichen Problemen, wenn er mit dem Zug verreisen will. So auch jetzt. Dabei hat er frühzeitig alle nötigen Vorbereitungen getroffen. „Ich habe mich eine Woche vor dem geplanten Reisetermin beim zentralen Mobilitätsservice der Deutschen Bahn angemeldet“, sagt er. Denn er braucht einen Helfer, der ihn mitsamt seinem Rollstuhl in einem Hublift vom Bahnsteig in den ICE befördert. Dieser Mobilitätshelfer sei ihm von der Bahn zunächst für den ICE von Augsburg nach Nürnberg am 14. Dezember um 7.48 Uhr bestätigt worden, so Voit. Doch bei dieser Zusage blieb es nicht.
Was folgte, machte den Rollstuhlfahrer wütend, so wütend, dass er sich an die Zeitung wandte. „Ich will die Menschen sensibilisieren, was ein Behinderter auf sich nehmen muss, um mit der Bahn zu reisen“, sagt er. Denn einen Tag nach der Zusage für den Helfer bekam Voit von der Bahn wieder eine Absage. „Am Telefon wurde mir mitgeteilt, dass zu diesem Zeitpunkt nur ein zuständiger Mitarbeiter am Augsburger Hauptbahnhof ist, der aber schon einen anderen Auftrag hat.“Noch mal einen Tag später bekam er eine E-Mail der Bahn, dass man seinen Auftrag storniert habe. „Was soll ich jetzt nur machen?“, fragt sich Voit. Schließlich hat er einen festen Termin, der sich nicht verschieben lässt.
Auf einer Tagung in Nürnberg, die vom größten deutschen Sozialverband VdK veranstaltet wird, soll der Augsburger einen Vortrag über Barrierefreiheit im öffentlichen Raum halten. Denn Voit ist nicht nur Architekt, er ist auch Landesverkehrsbeauftragter des bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes. Er wollte zusammen mit einem Vorstandsmitglied des Blindenbundes im ICE nach Nürnberg fahren. „Er kann mir auch nicht in den Zug helfen, weil er blind ist.“
Was sagt man bei der Deutschen Bahn zu diesem Fall? Ein Sprecher in München sieht das Problem bei dem betroffenen Rollstuhlfahrer. „Es tut uns leid, dass Herr Voit nicht unsere Angebote für den Mobilitätsservice in Anspruch nehmen will.“Man habe ihm alternativ eine Zugverbindung angeboten, die nur etwa 20 Minuten später in Augsburg abfahre und in Nürnberg zu einer ähnlichen Zeit ankomme wie der gewünschte ICE. Dies habe der Fahrgast kommentarlos abgelehnt. Der
Bahnsprecher sagt weiter, die Kapazitäten für den Mobilitätsservice insbesondere zu Hauptverkehrszeiten in der Vorweihnachtszeit seien „nicht unerschöpflich“. Im aktuellen Fall lägen zur Abfahrtszeit um 7.48 Uhr bereits Anmeldungen aus dem Oktober vor.
Voit hält die Auskunft des Bahnsprechers für irreführend. Der angeblich mögliche Alternativzug sei realistisch keine Alternative. Denn in diesem ICE müsste er in München umsteigen, was mit einem Rollstuhl schwer zu machen ist. Außerdem kommt der Zug rund eine Stunde später an – zu spät für seine Tagung. Aus Sicht des Rollstuhlfahrers hält die Bahn generell viel zu wenig Personal für ihren Mobilitätsservice vor, weil sie sparen will, auch in Augsburg. In einer Großstadt mit 300 000 Einwohnern sei ein verfügbarer Mitarbeiter am Hauptbahnhof einfach zu wenig.
Dass an Voits Kritik etwas dran ist, dafür sprechen Zahlen. Statistisch haben zehn Prozent der Deutschen eine Schwerbehinderung. Auch die Bahn hat Zahlen, wonach die Dienstleistungen der Mobilitätsservice-Zentrale immer häufiger nachgefragt werden. Im Jahr 2009 wurde die Zentrale 431 000 Mal in Anspruch genommen. Im Jahr 2018 war es 850 000 Mal. Insgesamt hatte die Bahn im Jahr 2018 148 Millionen Fahrgäste. Das heißt umgerechnet: Jeder 200. Fahrgast benötigte den Service.
Der Sprecher in München betont, die Bahn bemühe sich wie kaum ein anderes Verkehrsunternehmen um eine barrierefreie Reisekette. In Fernzügen der Baureihe ICE 4 gebe es eine fahrzeuggebundene Einstiegshilfe, die auch das Zugpersonal bedienen könne. Mehr als 200 Stück sollen von diesem Fahrzeug angeschafft werden. Züge der künftigen Eurocity-Generation sollen barrierefrei werden. Rollstuhlfahrer Voit macht als Fahrgast bislang andere Erfahrungen. Die Hebebühnen in den neuen ICEs seien so störungsanfällig, dass sie oft nicht eingesetzt werden, weiß er von seinen regelmäßigen Reisen.
Es kam auch schon vor, dass er eine gebuchte Fahrkarte samt Sitzplatz hatte und und am Bahnsteig wartete. Trotzdem durfte er nicht im ICE mitfahren – einfach weil der Zug zu voll war. Für die Fahrt nach Nürnberg hat sich Voit inzwischen einen kräftigen Taxifahrer organisiert. Dieser soll ihm am Samstag in den Zug helfen.
Das klappt aber nur, wenn der ICE in Augsburg fahrplanmäßig auf Gleis 1 einfährt. Sollte er kurzfristig an einem anderen Gleis halten, wird die Unterführung im Hauptbahnhof für den Rollstuhlfahrer zu einem unüberwindlichen Hindernis. Dann hätte Voit als behinderter Fahrgast der Bahn wieder einmal das Nachsehen.
Die Bahn sieht den Fehler beim Rollstuhlfahrer