Das Dalai-Lama-Prinzip
Ein Leben ohne Eile hat auch seine Vorteile – nicht nur in einer lauten, hektischen Stadt wie Rom. Ein Plädoyer für die Kunst des Innehaltens
Normalität. Das ist das Wort der Stunde. Die große Sehnsucht. Im Ausnahmezustand wünschen wir uns alle nichts sehnlicher, als zur „Normalität“zurückzukehren. Alles soll werden wie vorher. Manchmal bekomme ich allerdings einen flauen Magen, wenn ich mir vorstelle, wie nach Corona in Rom alles wieder seinen alten Gang nehmen wird. Der wieder auflebende Verkehr wird das erste Merkmal der Rückkehr zur „Normalität“sein. Wer wird dann noch öffentliche Verkehrsmittel nutzen, in denen man ja angeblich auch nicht mehr sicher ist? Man wird wieder um sein Leben fürchten müssen, wenn man eine Straße überquert. Sich im Straßenverkehr fortzubewegen ist nach allen bisherigen Erkenntnissen mindestens so gefährlich, wie dem sogenannten Killervirus zu erliegen.
Auch die Eile wird zurückkehren, von der viele von uns derzeit eine erholsame Pause nehmen. Wie hat der Dalai Lama es so schön formuliert: Die Menschen im Westen setzen erst ihre Gesundheit aufs Spiel, um Geld zu verdienen, und verlieren dann ihr Geld, um ihre Gesundheit wieder herzustellen. Wir lebten, als müssten wir nie sterben, und sterben, als hätten wir nie gelebt. Immer nach vorne gerichtet, nie innehaltend. Ich vermisse sie gerade nicht, die wahnsinnige Eile der Normalität. Und habe denselben Eindruck bei den mich umgebenden Menschen, die plötzlich auf das Vogelzwitschern hören, das man ja gar nicht hören konnte, weil es wie verschluckt war vom Großstadtlärm.
Man sieht jetzt verrückte Fotos: Affen erobern die Straßen in Thailand, Ziegenböcke wagen sich in Wales in die Zivilisation vor. Enten watscheln durch Rom. Pfauen flanieren in Madrid. Gestern waren wir es, die sie im Zoo anstaunten. Heute sind es die Tiere, die sich vor den verschlossenen Läden fragen: „Ja wo sind sie denn alle hin, diese komischen Menschen?“
Wenn alles wieder normal wird, verschwinden die Tiere wieder aus den Städten – ausgenommen diejenigen, denen wir Menschen zu sehr auf die Pelle gerückt sind. Zum Beispiel die Fledermäuse, die das Virus in sich tragen und es vielleicht sogar über einen Zwischenwirt an uns übertragen haben. Warum? Weil wir sie nicht in Ruhe lassen. Weil wir uns immer weiter in ihre Lebensräume vorarbeiten. Die Welt nimmt sich gerade eine Pause von der Spezies Mensch, das ist offensichtlich. Die Frage ist, ob wir die Botschaft verstehen – und das hat viel mit unserem Verständnis von „Normalität“zu tun.
Irgendwo habe ich einen Satz gelesen, der mich nicht mehr loslässt. Ich halte ihn für sehr optimistisch, er lautet: „Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, denn die Normalität war das Problem.“