Wie schaffen wir eine gerechtere Welt nach Corona?
Gerd Müller erlebt als Entwicklungsminister Armut und Ungerechtigkeit hautnah. Er fordert in seinem neuen Buch: Wir alle müssen umdenken
heute in einem globalen Dorf. Niemand kann sich heute der Globalisierung entziehen. Wenn wir in der Früh die Haare waschen, benutzen wir ein Shampoo, das Palmöl aus Indonesien enthält. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass die Regenwälder dort auch für unser Haarwaschmittel brennen? Und das Hemd, die Jeans, das T-Shirt – egal welches Kleidungsstück wir nach dem Duschen anziehen, stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Bangladesch, Äthiopien oder Myanmar. Die Schuhe schließlich kommen aus Vietnam, aus China, aus der ganzen Welt. Nur nicht aus Deutschland, hier gibt es nämlich so gut wie keine Schuhproduktion mehr.
Zu den hässlichen Gesichtern, die die Globalisierung hat, gehört auch das des Krieges. Von uns aus gesehen sind der Irak, Iran oder Syrien sehr weit entfernt. Für Mittelstreckenraketen aber beträgt die Flugdauer von dort bis nach Berlin nur 20 Minuten. Wir dürfen Kriegen und dem Einsatz von schrecklichen Waffen nicht nur mit Presseerklärungen begegnen. Der Frieden in Deutschland, den wir seit 75 Jahren genießen, wurde und wird durch das Nato-Bündnis gewährleistet. Frieden sollte aber auch den Menschen in den anderen Teilen der Welt dauerhaft gewährt sein.
Es gibt neue Gefahren, die unsere Sicherheit im Land bedrohen. So werden Firmen und die öffentliche Infrastruktur im Internet von Kriminellen und Terroristen angegriffen, wie zum Beispiel ein Kreiskrankenhaus in Deutschland – den Ort darf ich hier nicht nennen –, dessen Energieversorgung und IT-System komplett lahmgelegt wurden. Was das bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Energie und Wasserversorgung, Entsorgungssysteme, Bahnhöfe und Flughäfen sind täglich Ziele von Cyberangriffen. Das ist die Kehrseite der Digitalisierung. Deshalb brauchen wir ein europaweit koordiniertes Cyberabwehrsystem.
Eine andere Qualität von Bedrohung stellt der Klimawandel dar. Der Himmel gehört allen. Er kennt keine Grenzen: nicht zwischen Deutschland und Frankreich, auch nicht zwischen Europa und Afrika. Klimagase aus China belasten die Atmosphäre ebenso wie diejenigen aus Indien. Heißt, es kann nur eine internationale Antwort auf den Klimawandel geben – oder es wird keine ausreichende Antwort auf diese Schicksalsfrage der Menschheit geben. Auch vor der gewaltigen Dimension dieser Aufgabe ist Verzagtden heit falsch. Leadership und entschlossenes, mutiges Handeln in Europa sind notwendig.
Unsere nationalen Klimaziele sind selbstverständlich ein wichtiger Beitrag zum globalen Klimaschutz. Entscheidend jedoch für das Weltklima ist, was in den Schwellen- und Entwicklungsländern passieren wird, denn dort drohen in den nächsten Jahrzehnten massive Emissionssteigerungen. Genau dort brauchen wir deshalb gewaltige Technologiesprünge, die von einer Wirtschaftspartnerschaft und einer Investitionsoffensive begleitet werden müssen. Nur dann ist eine globale Energiewende möglich, die erst die unterschiedlichen Klimaschutzbemühungen erfolgreich werden lässt. Ein neuer Ansatz muss die Gewinnung von Solarenergie in der Sahara und die Produktion von grünem Wasserstoff, Methanol und klimaneutralen synthetischen Kraftstoffen sein. Auch hier gilt: Jeder kann und muss sich einbringen.
Seit dem 1. Januar 2020 ist das BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) klimaneutral. Wir handeln entschlossen und zeigen, dass die Umstellung gelingen kann. Alle deutschen Ministerien, Behörden und Betriebe, alle Kommunen in Deutschland können und sollten diesen Weg gehen. Das Gleiche gilt für Kirchen und Verbände und für jeden Einzelnen. Das Thema Klimaschutz wird nicht in zwei oder drei Jahren erledigt sein – es wird uns noch über Jahrzehnte begleiten. Schließlich geht es um eine Schicksalsfrage der Menschheit. Ich habe den Klimaschutz in Afrika auch zum Schwerpunktthema der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gemacht, denn dort bewirkt jeder zum Schutz des Klimas ausgegebene Euro ein Vielfaches von dem, was ein Euro für Maßnahmen in Deutschland oder Europa bewirken kann.
Ein Scheitern in der Klimafrage bedeutet zugleich, die Frage von Krieg und Frieden aufzuwerfen – das wird viel zu oft vergessen. Schon heute verlieren Millionen von Menschen in den Dürregebieten Afrikas ihre Lebensgrundlage und kämpfen ums Überleben. Unser Wohlstand hängt davon ab, dass wir die ökologischen Systeme – das Klima, die Wälder, die Ozeane – als Grundlage unserer Zivilisation intakt halten. Für unsere Bananen, Mangos oder den Kaffee nutzen wir Landressourcen in Südamerika und unsere Wirtschaft braucht Basisrohstoffe wie Coltan oder Kobalt aus Afrika. Ohne sie funktioniert kein Smartphone, kein Computer. Und woher soll das Lithium für Millionen von Elektrofahrzeugen kommen? Stellen wir uns einen Augenblick vor, Afrika würde in einen Ressourcenstreik treten – die Bänder der Autoindustrie stünden still, bei VW in Wolfsburg ebenso wie bei BMW in München. Kein Auto, kein Computer kann ohne die Rohstoffe Afrikas produziert werden. Eine neue Partnerschaft mit Afrika ist für Europa also Chance und Herausforderung zugleich.
Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind enorm. Mit der Agenda 2030, den sogenannten Sustainable Development Goals (SDG), hat sich die Welt einen Weltzukunftsvertrag gegeben, den wir entschlossen umsetzen müssen. Der SDG-Katalog ist die Agenda der Weltgemeinschaft für den Weg in eine nachhaltige Zukunft. Aber einen Katalog aufzulisten ist eine Sache, ihn erfolgreich umzusetzen eine ganz andere.
Wichtig ist in jedem Fall, dass man sich nicht resigniert ins Private zurückzieht, vielleicht sogar begleitet von dem Gedanken „Nach mir die Sintflut“. Es kommt vielmehr darauf an, dass so viele Menschen wie möglich erste Schritte in die richtige Richtung tun, denn wir sind auch die erste Generation, die mit ihrem Wissen und neuen, nachhaltigen Technologien Antworten und Lösungen für die Herausforderungen besitzt, um die Vielfalt und den Reichtum der Natur auf der Erde für kommende Generationen zu erhalten. Wir müssen weg von der Negativität und hin zu neuem Mut, mit viel Tatkraft und Optimismus uns den Herausforderungen stellen und Veränderung im Denken und Handeln bewirken.
»
„Ein Scheitern in der Klimafrage bedeutet zugleich, die Frage von Krieg und Frieden aufzuwerfen – das wird viel zu oft vergessen.“
Gerd Müller, Entwicklungsminister
Gerd Müller, 200 Seiten, ISBN 978-3-86774-649-6 Erscheint am 19. Mai, Murmann-Verlag