Warum Berührung so wichtig ist
Keine Umarmung, kein Küsschen, kein Handschlag: Wegen Corona kommt es zu weniger Körperkontakt. Der Haptikforscher Martin Grunwald berichtet über mögliche Folgen und erklärt, wen es am stärksten belastet
Wir sind derzeit angehalten, Distanz zu wahren. Berührungen sind tabu, wenn man vom Partner und der engsten Familie absieht. Herr Professor Grunwald, Sie sind Haptikforscher, was bedeutet das für alte Menschen, die ohnehin stark abgeschirmt werden? Prof. Martin Grunwald: Wir vergessen alle, dass der ältere Mensch eine andere Art der sozialen Beteiligung hat als ein junger Mensch. Der ältere Mensch hat generell weniger Sozialkontakte. Das heißt: Er hatte schon Gelegenheit, sich auf die neue soziale Interaktionssituation einzustellen. Und das haben die Jungen nicht gehabt. Junge Leute sind von 100 Prozent sozialer und auch Körperkommunikation auf null gesetzt worden, und das im Millionenpack. Ohne Vorbereitung mussten sie sich jetzt mit diesen Kommunikationsbedingungen und der Isolation auseinandersetzen. Die jungen Leute haben es viel, viel schwieriger in dieser Situation als die älteren. Das ist sicherlich die Bevölkerungsgruppe, einschließlich Kindern, die jetzt unsere verstärkte Aufmerksamkeit braucht. Auch Verständnis, dass sie sich trotzdem heimlich trifft. Ein Schulleiter hat mir neulich erzählt: Vor dem Schulgelände trafen sich die jungen Leute. Und was haben sie gemacht? Sich umarmt.
Aber junge Leute sind eher in die Familie eingebettet, alte Menschen sind oft ganz allein.
Grunwald: Der alte Mensch hat in seinem Leben die vollumfänglichen Erfahrungen von Jugend, von Potenzialen, von Freunden gemacht. Ein alter Mensch kann auf gewisse Erfahrungen und Sachverhalte zurückgreifen. Für die jungen Leute dagegen stellt sich heute zum Teil die Frage: Habe ich eine Zukunft?
Was ist aber mit dementen Menschen, die nicht mehr Zugriff auf ihre Erfahrungen haben?
Grunwald: Alle alten Menschen leiden unter Körperkontaktmangel. Ich bezweifle, dass Corona hier wirklich etwas komplizierter macht. Generell ist es ein Problem, dass alte Menschen außer von Ärzten und Pflegern kaum noch angefasst werden. In den idealen Großfamilienstrukturen, von denen wir alle träumen, gab es noch Enkelkinder, die Körperkontakt auch zu den sehr alten Mitgliedern der Familie aufrechterhalten haben. Aber ich glaube, dass bei dieser ganzen coronabedingten Problematik vor allem auch die Angehörigen leiden.
Inwiefern?
Grunwald: Weil man sich bei Besuchen wie ein Fremder verhalten muss. Ich habe das selbst mit meinen erwachsenen Töchtern erlebt. Bei den ersten Treffen haben wir uns nicht normal begrüßt, und das wurde von allen Beteiligten als etwas Furchtbares erlebt. Dann habe ich mir die sogenannte Corona-Decke übergeworfen – das ist ein großes
Bettlaken – und mich darin eingemummelt. Da kichern alle bei der Umarmung, aber man hat diesen Körperkontakt, der zur ElternKind-Kommunikation dazugehört. Das könnten vielleicht auch die älteren Menschen in solchen Situationen machen: sich eine keimfreie Decke überwerfen und richtig knuddeln.
Kann es auch ein Ersatz sein, ein Tier zu streicheln?
Grunwald: Ja, Säugetiere lieben Säugetiere. Deswegen sind Säugetiere unsere Haustiere. Katzen und Hunde haben etwas davon, unseren Körper zu spüren, und wir haben etwas davon, wenn wir deren Körper spüren. Haustiere haben wahrscheinlich wirklich eine körperkommunikative Funktion für uns. Wir freuen uns einfach, mit etwas Lebendigem Körperkontakt zu haben. Ein Säugetier zu haben ist ein ganz klares Plus in dieser schwierigen Phase. Ältere, lebende Menschen profitieren ungemein von so einem kleinen Dackel oder einer Katze.
Was halten Sie von Robotertieren? Grunwald: Es gibt Roboterrobben mit Fell, die bei dementen Patienten wohl auch zur Beruhigung führen. Der gesunde alte Mensch durchschaut das Manöver aber.
Verstärken Masken das Gefühl der Einsamkeit?
Grunwald: Sicher. Das ist so ungewöhnlich, wenn man das ganze Gesicht nicht mehr sieht. Da fehlen wichtige Informationsgruppen für unser Gehirn. Wir haben viele Gesichtsmuskeln. Wir können sie ansteuern und dekodieren, also: Wir verstehen den anderen auch von seiner Mimik her. Durch die Maske ist der visuelle Kanal beeinträchtigt, und das Gemurmel dahinter ist ja unerträglich.
Macht es auch etwas aus, wenn Menschen jetzt auf den Handschlag verzichten müssen?
Grunwald: Ja, selbstverständlich. Wie man die Hand gibt, sagt alles aus. Das können Sie dynamisch und energetisch, aber auch ängstlich oder lasch machen. Ein Handschlag ist ein ganz einfaches und schnelles Kommunikationsmittel, das zu unserer Kultur gehört.
Bringen Ersatzgrüße mit Ellbogen oder Füßen etwas?
Grunwald: Natürlich. Im Prinzip können Sie nur feststellen, dass der andere Mensch wirklich existiert, indem Sie ihn anfassen. Alles andere kann Illusion sein. Das Ertasten ist ein Versicherungssinn: Mit der Tastsinnesexploration können wir zweifelsfrei feststellen, dass es eine dreidimensionale Welt außerhalb unseres Körpers überhaupt gibt. Nur sehen oder nur hören führt nicht zu eiallein nem Beweis der Existenz einer äußeren Welt.
Was kann also passieren, wenn man längere Zeit darauf verzichten muss? Grunwald: Das wissen wir nicht. Da müssen wir die Studien nach Corona abwarten. Mir fallen jeden Tag tausend neue Phänomene auf, die mit Corona assoziiert sind. Eltern beobachten jetzt zum Beispiel, dass Vorund Grundschulkinder daheim eine starke Körperanhänglichkeit zeigen. Es kann sein, dass Kinder durch die Gesamtsituation verunsichert werden und jetzt besonders viel Körperkommunikation brauchen und körperlichen Zuspruch, damit der Stress reduziert wird.
Können Sie sich vorstellen, dass das Immunsystem geschwächt wird? Grunwald: Das könnte durchaus sein. Und das wäre eine Tragödie für Leute, die alleine leben und die sowieso schon körperkommunikativen Mangel haben. Berührungsmangel trägt zur Destabilisierung von Menschen bei. Wenn es jemandem psychisch nicht gut geht, wird auch das Immunsystem strapaziert.
Kann man sich beruhigen, indem man sich selbst anfasst?
Grunwald: Sich selber zu berühren führt nicht zu den Entspannungsreaktionen, die hervorgerufen werden, wenn uns ein anderes Lebewesen berührt. Unser Gehirn registriert nämlich, dass wir das sind, der sich anfasst. Damit das wirkt, muss das von jemand anderem ausgehen.
Warum fasst man sich dann so oft ins Gesicht?
Grunwald: Wir versuchen gerade, das durch weitere Studien noch besser zu verstehen. Offensichtlich versucht unser Gehirn, einen Zustand der Homöostase, also des Gleichgewichts, zu erzeugen. Impulse von außen stören immer wieder das Gleichgewicht unseres Gehirns, auch unserer Emotionen. Um dieses Gleichgewicht wiederherzustellen, werden Selbstberührungen ausgelöst. An einem 16-Stunden-Tag kann es 400 bis 800 Mal dazu kommen. Ein einfaches Beispiel: Sie sind das erste Auto vor einer Ampel. Es wird grün und Sie bummeln. Hier in Sachsen wird das mit einem Hupkonzert quittiert nach dem Motto: „Nun fahr endlich, du Idiot!“Weil dieses Hupen negative Emotionen erzeugt, berühren Sie erst mal Ihr Gesicht, bevor Sie losfahren. Sie müssen diesen Ärger erst mal verarbeiten. Das Gehirn inszeniert dazu diese Selbststimulation. Bewusst kann man das nicht herbeiführen, das haben wir auch untersucht.
Interview: Angela Stoll
Martin Grunwald, 54, ist Psychologe am PaulFlechsig-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig.