Ein Virus spaltet die Chorgemeinschaft
Corona Schulter an Schulter, die Münder offen: Gemeinschaftliches Singen während der Pandemie ist in Verruf geraten. Was sagt die Wissenschaft dazu? Und wie ergeht es Chören im Lockdown? Eine Erkundung in der Region
Seit Wochen ist bei Youtube ein Video des Prager Barockensembles Collegium 1704 eingestellt. Darin sieht man die Interpreten in einer Kirche beim Vortrag – die acht Sängerinnen und Sänger mit geschätzt zwei Metern Abstand zueinander im Raum verteilt, die drei begleitenden Instrumentalisten und auch der Dirigent in ebensolcher Distanz zueinander, und alle mit Maske vor Mund und Nase. Das Beste dabei: Man sieht es, hört es aber nicht.
Hygienisch besser als das tschechische Ensemble kann man es nicht machen in diesen Zeiten. Aber sieht so die – hoffentlich bloß nähere – Zukunft des Konzertwesens aus, gerade auch dann, wenn Chöre beteiligt sind? Geht Singen in Gemeinschaft nur noch mit Mundschutz?
Im Zuge der Pandemie ist Gesang unter Verdacht geraten. Vor allem, nachdem mehrfach Fälle von Corona-Ausbrüchen bei Chören bekannt geworden waren. Im März hatte sich im US-Bundesstaat Washington ein Chor zu einer Probe getroffen, im Anschluss daran waren von den gut 60 Chormitgliedern 53 an Covid-19 erkrankt, zwei sogar mit tödlichen Folgen. In Amsterdam infizierten sich fast vier Fünftel eines 130 Mitglieder starken Vokalensembles, auch hier kam es zu Todesfällen. Rasch entstand der Eindruck, dass dicht geschlossene Sängerreihen, aber auch die physiologischen Vorgänge beim Singen regelrechte Virenschleudern seien.
Inzwischen gibt es mehrere wissenschaftliche Studien zu dem Thema. Sie widersprechen der Vorstellung, unter Infektionsgesichtspunkten sei das Singen eine überproportional gefährliche Angelegenheit. Eine Untersuchung der Münchner Universität der Bundeswehr weist darauf hin, „dass die Luft beim Sin
kein erhöhtes Risiko besteht“. Allerdings weisen die Freiburger ebenso wie Wissenschaftler der Berliner Charité auf die Gefahr durch Aerosole hin, deren Ausbreitung beim gegenwärtigen Kenntnisstand nur schwer abzuschätzen sei. Wo Chorgesang stattfinde, sollte dieser deshalb in möglichst großen und hohen Räumen stattfinden, im günstigsten Fall, so die Freiburger Studie, „im Freien“.
Solche Empfehlungen werden wohl auch in Hygienekonzepte einfließen, über denen bayerische Fachministerien in diesen Tagen brüten, um dem musikalischen Sektor ab dem 15. Juni ein schrittweises Wiederanlaufen zu erlauben. Höchste Zeit, denn seit neun Wogen chen liegt das Chorwesen brach, ist Singen „allenfalls in der Badewanne erlaubt“, wie Paul Wengert sarkastisch sagt. Der Präsident des Chorverbands Bayerisch-Schwaben, einer Dachorganisation mit 19000 Mitgliedern, hat unter seinen 550 Laien-Ensembles zwar keinen Corona-Ausbruch wie in den USA oder den Niederlanden zu beklagen, weiß aber wohl davon zu berichten, dass die Zwangspause den Sängerinnen und Sängern aufs Gemüt drückt. Ganz zu schweigen von den praktischen Folgen des Lockdown: „Wenn über eine so lange Zeit keine Stimmbildung möglich ist, dann hat das natürlich Auswirkungen auf das Singen“, klagt Wengert.
Auch bei den Augsburger Domtern
Die in Zeiten der Pandemie viel beschworene Verlagerung ins Digitale stellt für Chöre allenfalls eine Krücke dar. Proben oder gar gemeinsames Singen mittels Videochat dürfte im Amateurbereich auf Ausnahmen beschränkt bleiben, meint Paul Wengert. Bei den Augsburger Domsingknaben kam digitale Unterweisung zwar zustande, etwa indem Stimmgruppen im digitalen Raum zusammentrafen. Aber das waren buchstäblich einseitige Veranstaltungen, berichtet Stefan Steinemann: „Die Jungs konnten zwar mich hören, in umgekehrter Richtung aber blieben die Mikrofone stumm.“Mit Bedacht, denn wenn Chöre von zu Hause aus live den Zusammenklang simulieren, führt das laut Steinemann zu „eher heiteren Momenten“.
Am Donnerstag nahm der Leiter der Domsingknaben zusammen mit den Kollegen der Knabenchöre aus Bad Tölz, Regensburg und Windsheim an einem Treffen im Münchner Kunstministerium teil, um über spezifisch sängerische Belange im Rahmen der Wiederaufnahme des Betriebs zu beraten. Dass der Neustart unter dem Gebot des Social Distancing stehen wird, ist allen in der Chorwelt klar. Doch egal, ob eineinhalb oder zwei Meter Abstand oder gar noch mehr: Stefan Steinemann ist gewillt, die noch festzulegenden Vorgaben als Herausforderung anzunehmen. Man habe auch bisher schon mehrchörig und somit verteilt im Raum gesungen. Ebenso wie Paul Wengert hofft er natürlich auf baldige Auftritte vor Publikum. Vor allem aber sei wichtig, dass es jetzt überhaupt wieder losgehe, dass in die Arbeit mit den Sängern wieder Kontinuität einkehre. „Wir können“, sagt der Leiter der Domsingknaben geradezu beschwörend, „definitiv nicht warten, bis ein Impfstoff gefunden ist“.