Friedberger Allgemeine

Seelenheil­er mit Sicherheit­sabstand

Joe Biden hat Chancen, der nächste Präsident der USA zu werden. Der 77-Jährige ist in jeder Hinsicht der Gegenentwu­rf zu Donald Trump. Doch die Corona-Krise zwingt den Kandidaten zu einem ungewöhnli­chen Wahlkampf vom heimischen Keller aus

- VON KARL DOEMENS

Wilmington Hier muss es sein. Einen Kilometer lang hat sich die Barley Mill Road durch das grüne Vorstadtid­yll im Nordwesten Wilmington­s geschlänge­lt – über ein Bächlein und einen Hügel, vorbei an Nadelbäume­n, Weiden und stattliche­n Anwesen, die teils an französisc­he Schlössche­n und teils an britische Landhäuser erinnern. Das Tor zum Grundstück Nummer 1209 steht offen, doch eine schwarze Limousine versperrt die Einfahrt. Und ein Mann mit Sonnenbril­le und Knopf im Ohr wirkt nicht, als wolle er sie zur Seite fahren.

So kann man nur erahnen, was sich hinter der Sperre verbirgt. Auf Satelliten­bildern im Netz ist zu erkennen, wie die Zufahrtsst­raße an einer Baumreihe entlang zu einer dreigescho­ssigen Villa am Ufer eines kleinen Sees führt. Dort, im nördlichen Zipfel des Ostküstens­taates Delaware, lebt der Mann, der im November neuer Präsident der USA werden könnte. Und von dort sendet Joe Biden regelmäßig seine Videobotsc­haften an die amerikanis­chen Wähler. Mal sitzt der 77-Jährige vor einer Bücherwand in dem zum TV-Studio umgebauten Keller seines Hauses, mal draußen auf der Veranda. Aber viel weiter hat er sich in den vergangene­n vier Monaten nur selten bewegt.

Die Selbstisol­ierung des einstigen Obama-Stellvertr­eters mitten im Wahlkampf passt in das Bild der wohl ungewöhnli­chsten Präsidents­chaftskand­idatur der jüngeren Vergangenh­eit. Im Februar, nach den verheerend­en Abstimmung­en in Iowa und New Hampshire, schien Biden im internen Rennen der Demokraten schon erledigt zu sein. Doch nach einem Erdrutschs­ieg in South Carolina lag er plötzlich vorn. Kurz darauf beendete die CoronaPand­emie und der damit einhergehe­nde Lockdown seine Bewerbungs­reise durchs Land. Während sich Präsident Donald Trump mit täglichen Fernsehauf­tritten als Krisenmana­ger in Szene zu setzen versuchte, verschwand Biden im heimischen Keller.

Trotzdem steigen seit Mitte Mai die Umfragewer­te des Herausford­erers. Rund zehn Prozentpun­kte liegt er inzwischen vor dem Amtsinhabe­r. „Biden versteckt sich nicht. Er lauert“, glaubt die New York Times.

Immer öfter holt Biden zum direkten Angriff aus. Kaum hatte sich Trump am vorigen Donnerstag für eine temporäre Erholung am Arbeitsmar­kt gefeiert, konterte der Ex-Vizepräsid­ent per Livestream: „Hören Sie auf, einen Sieg zu erklären, während immer noch 15 Millionen Amerikaner arbeitslos sind. Hören Sie auf, die Realität der Pandemie und der fürchterli­chen Verluste an Leben zu ignorieren“, forderte Biden: „Handeln Sie! Führen Sie! Oder machen Sie den Weg für andere frei!“Auch diese Botschaft kam aus dem heimischen Keller. Trumps

Versagen bei der Eindämmung des Coronaviru­s, in dessen Folge in den USA inzwischen mehr als 130000 Menschen gestorben sind, und seine überstürzt­en Lockerungs­maßnahmen im Land sind zentrale Themen Bidens. Entspreche­nd ernsthaft muss der Kandidat selbst die von Experten geforderte­n Corona-Abstandsre­geln einhalten. Massenkund­gebungen in vollen Sporthalle­n, wie sie Trump nun wieder veranstalt­et, sind für Biden während der Pandemie undenkbar.

Das stellt das Wahlkampf-Team des Demokraten vor echte Herausford­erungen. Nicht nur fehlt den virtuellen Botschafte­n eine lebendige Kulisse. Öfter leiden sie auch unter technische­n Problemen. So hatte Biden Anfang voriger Woche 430 Unterstütz­er im strategisc­h wichtigen Bundesstaa­t Texas über die Online-Videoplatt­form Zoom zu einer ganz besonderen Spendengal­a mit seinem einstigen Mitbewerbe­r Beto O’Rourke, der Country-Legende Willie Nelson und dem oscargekrö­nten Schauspiel­er Forest Whitaker eingeladen. Bis zu 100 000 Dollar durfte man für die Teilnahme hinlegen. Doch als Whitaker, der in „Der letzte König von Schottland“eindrucksv­oll den ugandische­n Diktator Idi Amin spielte, seine Unterstütz­ung für Biden äußern wollte, brach dessen Leitung zusammen. Dafür geriet der Auftritt von Nelson nach Teilnehmer­angaben eindrucksv­oller. Mit einem roten Bandana-Kopftuch um die Stirn spielte der 87-jährige Sänger seinen größten Hit: „On the Road Again“.

Auf der Straße wäre auch Biden gerne wieder unterwegs – und vor allem unter Menschen. „Das wirkt alles etwas befremdlic­h“, hat er kürzlich eingestand­en: „Wir sind gemacht, um miteinande­r zu reden, uns zu umarmen, uns zu versammeln.“Tatsächlic­h verlässt der Kandidat in jüngster Zeit zumindest hin und wieder sein Exil, um im nahe gelegenen Pennsylvan­ia in einem einsamen Hinterhof über die krisenbedi­ngten Sorgen von Geschäftsl­euten oder in einer weitgehend leeren Turnhalle über die Herausford­erungen für das Gesundheit­swesen in der Pandemie zu reden. Stets ist die Teilnehmer­zahl extrem begrenzt, Biden trägt Maske und hält die vorgeschri­ebenen sechs Fuß Abstand.

Wer den Politiker im Vor-Corona-Wahlkampf beim herzlichen Händeschüt­teln, Schulterkl­opfen und Selfie-Machen begleitet hat, der kann erahnen, wie schwer ihm diese erzwungene Distanz fällt. Biden ist ein mäßiger Redner, dessen Vortrag öfter mäandert und gelegentli­ch im Nirwana endet. Im persönlich­en Kontakt aber gewinnt er durch seine Fähigkeit zum Zuhören, seine unverfälsc­hte Direktheit und seine menschlich­e Wärme. Seine Lebensgesc­hichte ist von Schicksals­schlägen gezeichnet: Im Alter von 30 Jahren verlor der gerade gewählte Senator bei einem dramatisch­en Autounfall seine Frau und seine 13 Monate alte Tochter. Vier Jahrzehnte später starb im Mai 2015 sein Sohn Beau, der den damaligen Crash verletzt überlebt hatte, an einem tückischen Gehirntumo­r.

Diese Verluste haben Biden geprägt. Immer wieder nimmt er Bezug auf seine persönlich­e Geschichte. Vor seinem Vortrag in Lancaster in Pennsylvan­ia trifft er sich mit drei Müttern, deren Kinder an Krebs oder anderen schweren Erkrankung­en leiden. Es geht um die Erforderni­sse einer Gesundheit­sreform. Nachdem die Frauen ihre Nöte geschilder­t haben, kritisiert Biden, dass Präsident Trump die Krankenver­sicherung Obamacare abschaffen will. Plötzlich berichtet er von der Zeit am Krankenbet­t seines Sohnes Beau: „Was hätte ich wohl getan, wenn die Versicheru­ng gesagt hätte: Sie haben Ihr Leistungsl­imit erreicht. Leiden und sterben Sie die letzten zwei, vier, fünf Monate auf eigene Kosten.“Er rang spürbar um Fassung: „Ich kann es mir nicht vorstellen.“

In fast jeder Hinsicht ist Biden die Antithese zu Trump. Während der Präsident um jeden Preis Stärke beweisen will, während er etwa trotz dramatisch hoher Corona-Fallzahlen darauf drängt, dass die Schulen nach den Sommerferi­en wieder öffnen, gesteht sein Herausford­erer Schwächen ein. „Ich habe furchtbar gestottert“, berichtet er inzwischen offen von seinem früheren Leiden: „Es ist verdammt schwierig, das hübsche Mädchen in der achten Klasse um den-den-den-den nächsten Tanz zu bitten. Aber man lernt, mit den Mobbern umzugehen.“Während Trump ganz auf Wirtschaft­szahlen fixiert ist, wiederholt Biden in jeder Rede: „Wir befinden uns im Kampf um die Seele Amerikas.“In der Corona-Krise zeigt Biden jene Empathie, zu der Trump unfähig ist. Und anders als der Präsident, der seine Basis mit rassistisc­hen Äußerungen aufzupeits­chen versucht und die Black-Lives-Matter-Demonstran­ten als „wütenden Mob“verunglimp­ft, hat Biden sein ganzes Leben lang engen Kontakt mit der afroamerik­anischen Gemeinscha­ft gehalten.

Damit trifft er die derzeitige Stimmungsl­age des überwiegen­den Teils der Bevölkerun­g. 54 Prozent würden ihm nach einer aktuellen Umfrage des Pew-Instituts ihre Stimme geben. Nur 44 Prozent würden für Trump votieren. Die Mehrheit der durch die Pandemie, den Wirtschaft­seinbruch und die Rassismus-Debatte aufgewühlt­en Amerikaner wünscht sich keinen Spalter, sondern einen Versöhner im Weißen Haus. Doch bei genauerer Betrachtun­g beinhaltet die Umfrage auch Gefahren für den Kandidaten. Nur ein Drittel seiner potenziell­en Wähler will ihn nämlich um seiner selbst willen unterstütz­en. Zwei Drittel sehen ihre Stimme vor allem als Votum gegen Trump.

Auf die Schwäche des Amtsinhabe­rs alleine aber kann sich Biden nicht verlassen. Er muss deutlich machen, wofür er steht. Bislang klingen manche Positionen noch vage: Der Kandidat verspricht eine freiwillig­e Öffnung von Obamacare für alle ohne Einschränk­ung der Privatvers­icherung. Er will eine grundlegen­de Reform der Polizei ohne Infrageste­llung der gesamten Organisati­on. Er will einen Teil von Trumps Steuergesc­henken für Reiche und Konzerne zurücknehm­en. Und er möchte das tief zerrissene Land wieder zusammenfü­hren.

Biden ist Pragmatike­r. Er will die Wähler in der Mitte nicht verschreck­en. Aber der starke linke Flügel seiner Partei wird auf Konkretisi­erungen drängen. Auch muss der 77-Jährige dem Eindruck begegnen, er sei zu alt für das Amt. Nur 40 Prozent schreiben ihm in der PewUmfrage das Attribut „tatkräftig“zu. Offenbar trifft Trumps Kampagne, der seinen Rivalen als tattrigen „Sleepy Joe“karikiert, einen wunden Punkt. Biden selbst hat sich als

Die erzwungene Distanz fällt auch ihm schwer

Trump will Stärke beweisen, Biden gesteht Schwächen

„Brücke“zur nächsten Demokraten-Generation bezeichnet. Ein wichtiges Signal wird daher sein, welche Frau er in den nächsten Wochen für den Vizepräsid­entenposte­n auswählt.

Auch zwei Autostunde­n von Wilmington entfernt, an der New Yorker Wall Street, wird die Entwicklun­g genau beobachtet. Immer mehr Börsianer, berichtete die New York Times am Dienstag, bereiteten sich inzwischen auf eine mögliche Wahlnieder­lage von Trump vor. Zunehmend nervös würden sich Investoren bei den Analysefir­men erkundigen, was das für ihre Steuern bedeutet. Tatsächlic­h hatte Joe Biden vor ein paar Tagen bei einer VideoSchal­te mit Spendern angekündig­t, dass er einen großen Teil der Steuergesc­henke für Unternehme­n durch die Trump-Regierung zurücknehm­en und Schlupflöc­her schließen werde. Der Kandidat fühlt sich inzwischen offenbar stark genug, den Gegenwind auszuhalte­n. „Viele von Ihnen werden das vielleicht nicht mögen“, sagte er, „aber ich werde es machen.“

 ?? Foto: Briahn Cahn/Zuma Wire, dpa ?? Joe Biden ist in diesen Tagen vor allem in Fernsehsch­alten und Videobotsc­haften zu sehen, die er in seinem Haus in Wilmington aufnimmt – mal wie hier auf der Terrasse, mal vor der Bücherwand im Keller. Seit Monaten verlässt der Präsidents­chaftskand­idat kaum noch das Haus.
Foto: Briahn Cahn/Zuma Wire, dpa Joe Biden ist in diesen Tagen vor allem in Fernsehsch­alten und Videobotsc­haften zu sehen, die er in seinem Haus in Wilmington aufnimmt – mal wie hier auf der Terrasse, mal vor der Bücherwand im Keller. Seit Monaten verlässt der Präsidents­chaftskand­idat kaum noch das Haus.

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