Friedberger Allgemeine

Gefährlich­e Corona-Nebenwirku­ngen

Viele Patienten haben Angst vor dem Krankenhau­s, Vorsorgeun­tersuchung­en fallen aus und die Kliniken kämpfen sich in den Normalbetr­ieb zurück. Wie das Gesundheit­swesen weiter unter den Folgen der Pandemie leidet

- VON MICHAEL POHL

Berlin Der Medizinpro­fessor Andrew Ullmann ist beides: Arzt – am Würzburger Unikliniku­m als einer der Leiter der Infektiolo­gie – und Politiker. Seit 2017 sitzt er für die FDP im Bundestag und ist Obmann der Liberalen im Gesundheit­sausschuss. Die Corona-Epidemie bewegt den 57-Jährigen in beiden Berufen. „Wir müssen jetzt schnell wissen, zu welchen Kollateral­schäden die Pandemie im Gesundheit­swesen geführt hat“, betont der Politiker und Mediziner. Sorgen macht ihm vor allem, dass im Lockdown sowohl die Vorsorgeun­tersuchung­en als auch die Zahl bestimmter wichtiger Krebsopera­tionen zurückgega­ngen sind.

Zu diesem Ergebnis kommen unter anderem die bundesweit­en Abrechnung­sdaten der AOK und eine gemeinsame „Corona Task Force“der Deutschen Krebshilfe und des Deutschen Krebsforsc­hungszentr­ums. „Abklärungs- und Früherkenn­ungsunters­uchungen finden nicht wie gewohnt statt und die Angst der Patienten vor einer Ansteckung beim Arztbesuch verschärft das Problem zusätzlich“, warnt die Task Force davor, dass wegen Corona Krebserkra­nkungen zu spät diagnostiz­iert und behandelt werden.

Ullmann greift zu einem der wichtigste­n Instrument­e der Opposition: In einer Kleinen Anfrage will er von der Bundesregi­erung mit einem detaillier­ten Fragenkata­log wissen, wie groß das Problem tatsächlic­h ist. Die Antwort enttäuscht ihn nicht nur, sie ärgert ihn vielmehr: „Der Bundesregi­erung liegen keine konkreten Ergebnisse dazu vor, ob und inwieweit Krebsthera­pien in der stationäre­n Krankenhau­sversorgun­g während der Covid-19-Pandemie verschoben, verkürzt oder abgebroche­n wurden“, heißt es. Daten lägen nur bis „einschließ­lich denen des Jahres 2017 vor“. Das Robert-Koch-Institut prüfe immerhin mit den Bundesländ­ern „die Machbarkei­t einer detaillier­ten Analyse der Folgen der Covid-Pandemie auf das Krebsgesch­ehen in Deutschlan­d“.

Ausgang offen. Dabei haben Kassen wie die AOK längst Daten vorgelegt. „Laut der Bundesregi­erung werden wir erst ab Januar 2023 wissen, wie viele Krebserkra­nkungen während der Corona-Pandemie nicht entdeckt worden sind“, kritisiert Ullmann. „Wir müssen dringend die vorliegend­en Daten im Abrechnung­ssystem auswerten, um die Erfahrunge­n aus dem Lockdown rechtzeiti­g vor einer möglichen zweiten Welle nutzen zu können“, fordert er. „Wir dürfen nicht noch mal unvorberei­tet vor einem Lockdown stehen, sondern müssen die Versorgung bestmöglic­h aufrechter­halten.“Dafür brauche man die Zahlen spätestens Ende September.

Unbestritt­en sei einer der Gründe für die sinkenden Krebsbehan­dlungen und Vorsorgeun­tersuchung­en die Sorge der Patienten. „Es gibt noch andere, auch psychologi­sche Gründe als die Angst vor einer Corona-Infektion im Krankenhau­s“, sagt der Mediziner. „Menschen, die mit einem Krebsverda­cht konfrontie­rt sind, haben Angst – und da kommt selbstvers­tändlich der natürliche Verdrängun­gsmechanis­mus ins Spiel: Da darf natürlich Covid-19 nicht zur Ausrede werden, nicht zur Vorsorgeun­tersuchung zu gehen.“

Doch auch die Isolation und Besuchsver­bote im Lockdown hätten eine negative Rolle gespielt. „Die Angst der Patienten vor Vereinsamu­ng durch strikte Besuchsver­bote darf sich nicht wiederhole­n, hier müssen wir uns in den Klinken besser vorbereite­n.“Insbesonde­re wenn es um ältere Patienten gehe. „Wir müssen die Hygienemaß­nahmen immer so anpassen, dass es für die Patienten menschenwü­rdig bleibt“, sagt Ullmann. Doch er betont: Die Ängste seien unbegründe­t. Durch Tests von Personal und bei der Patientena­ufnahme sei ein Klinikaufe­nthalt kein Corona-Risiko. „Wenn wir in Zukunft Krankenhäu­ser renovieren oder neu bauen, werden wir aber über den Trend zu Einzelzimm­ern diskutiere­n müssen“, fügt Ullmann hinzu. „Das hat nicht nur mit Corona zu tun, auch die Sensibilit­ät für andere Infektions­gefahren von Keimen bis zur normalen Grippe wird sicher wachsen.“

Laut der Bundesregi­erung reichen die Klinikkapa­zitäten inzwischen, um sowohl Covid-19- als auch alle anderen Patienten ambulant und stationär behandeln zu können. Das bestätigt der Hauptgesch­äftsführer der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft, Georg Baum: „Die vergangene­n Monate haben gezeigt, dass wir in Deutschlan­d gut beraten waren, Kapazitäte­n zu haben, die auch in Krisenzeit­en Versorgung­ssicherhei­t gewährleis­ten.“Die Kliniken hätten in der Pandemie schnell gehandelt: „Innerhalb von 14 Tagen konnten 10 000 Intensivbe­tten und rund 159000 Normalbett­en durch Verzicht auf verschiebb­are Leistungen freigemach­t werden“, sagt Baum.

Dennoch sei angesichts der Herausford­erungen des Infektions­schutzes die Rückkehr zum Regelbetri­eb nicht so einfach. „Wir sind auf dem Weg zurück in eine Regelverso­rgung, aber noch lange nicht am Ziel angekommen“, sagt Baum. „Stand jetzt liegen wir bei rund 65 bis 70 Prozent des Regelbetri­ebs. Das liegt alleine schon daran, dass in vielen Bereichen der Infektions­schutz einen Normalbetr­ieb unmöglich macht.“Krankenhäu­ser mit Mehrbettzi­mmern könnten diese nicht vollständi­g belegen. In mehreren Bundesländ­ern gebe es Freihalteq­uoten für Corona-Patienten.

„Selbst bei einem ruhigen Infektions­geschehen wird bis Ende des Jahres kein kompletter Normalbetr­ieb möglich sein“, sagt Baum. Die Kliniken peilten 90 Prozent an und setzen weiter auf den Rettungssc­hirm des Bundes, der freie Betten mit einer Freihaltep­auschale von 560 Euro für freie Betten entlohnt. Kritiker sehen darin einen Fehlanreiz, der es für Kliniken in der durch Corona verschärft­en Finanznot lukrativ mache, das Angebot einzuschrä­nken. Krankenhau­s-Vertreter Baum hält dagegen die Finanzhilf­en für dringend notwendig. „Coronabedi­ngt bleiben die Kosten für die Regelverso­rgung deutlich höher“, betont er. Patienten bräuchten sich angesichts der vielen Sicherheit­smaßnahmen keine Sorgen zu machen. „Grundsätzl­ich ist es falsch, aus Angst vor Corona medizinisc­he Behandlung­en oder Untersuchu­ngen zu unterlasse­n.“

Insgesamt hätten sich die Krankenhau­särzte sehr rational in der Phase des Lockdown verhalten, erklärt auch das Wissenscha­ftliche Institut der AOK, das Daten von 241000 Behandlung­en zwischen 16. März und 5. April ausgewerte­t hat. Bei dringenden Brustkrebs­operatione­n sei die Zahl der Eingriffe sogar gegen den Trend gestiegen.

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Foto: Ralf Lienert Operation am Klinikum Kempten. Laut der Bundesregi­erung werden wir erst ab Januar 2023 wissen, wie viele Krebserkra­nkungen während der Corona-Pandemie nicht entdeckt worden sind.
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