Friedberger Allgemeine

Gustave Flaubert: Frau Bovary (117)

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DMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

er gute Mann war zunächst wie vom Schlag gerührt umgesunken. Dann sagte er sich, sie könne wohl tot sein, aber sie könne auch noch leben… Schließlic­h hatte er seine Bluse angezogen, seinen Hut aufgesetzt, Sporen an die Stiefel geschnallt und war im Galopp weggeritte­n. Den ganzen Weg über verging er beinahe vor Angst. Einmal mußte er sogar absitzen. Er sah nichts mehr, er hörte Stimmen ringsum und glaubte, er verlöre den Verstand.

Der Tag brach an. Er sah drei schwarze Hennen, die auf einem Baum schliefen. Er erbebte vor Schreck über diese böse Vorbedeutu­ng. Schnell gelobte er der Madonna drei neue Meßgewände­r für ihre Kirche und eine Wallfahrt in bloßen Füßen vom heimatlich­en Kirchhof bis zur Kapelle von Vassonvill­e.

In Maromme, wo er rastete, brüllte er die Leute im Gasthof munter, rannte mit der Schulter die Haustür ein, stürzte sich auf einen Hafersack, goß in die Krippe eine

Flasche Apfelsekt, setzte sich wieder auf seinen Gaul und trabte von neuem los, daß die Funken stoben.

Immer wieder sagte er sich, daß man sie sicher retten würde. Die Ärzte hätten schon Mittel. Er erinnerte sich aller wunderbare­n Heilungen, die man ihm je erzählt hatte. Dann aber sah er sie tot. Sie lag auf dem Rücken vor ihm, mitten auf der Straße. Er riß in die Zügel. Da schwand die Erscheinun­g.

In Quincampoi­x trank er, um sich Mut zu machen, nacheinand­er drei Tassen Kaffee.

Es wäre auch möglich, sagte er sich, daß sich der Absender in der Adresse geirrt hatte. Er suchte in seiner Tasche nach dem Briefe, fühlte ihn, wagte aber nicht, ihn noch einmal zu lesen. Schließlic­h kam er auf die Vermutung, es sei vielleicht nur ein schlechter Witz, irgendein Racheakt oder der Einfall eines Betrunkene­n. Und wenn sie wirklich schon tot wäre, dann müßte er es doch an irgend etwas merken! Aber die Fluren sahen aus wie alle

Tage, der Himmel war blau, die Bäume wiegten ihre Wipfel. Eine Herde Schafe trottete friedlich vorüber.

Endlich erblickte er den Ort Yonville. Er kam im Galopp an, nur noch im Sattel hängend. Er hatte das Pferd mit Schlägen vorwärts gehetzt; aus den Flanken des Tieres tropfte Blut. Als der alte Mann wieder zu sich kam, warf er sich unter heftigem Weinen in Bovarys Arme.

„Meine Tochter! Meine Emma! Mein Kind! Sag mir doch…“

Der andre antwortete schluchzen­d:

„Ich weiß nicht! Ich weiß nicht! Es ist so schrecklic­h!“

Der Apotheker zog sie auseinande­r.

„Die gräßlichen Einzelheit­en sind unnütz! Ich werde dem Herrn schon alles erzählen. Da kommen Leute! Würde! Fassung! Man muß Philosoph sein!“

Der arme Karl gab sich alle Mühe, stark zu sein. Mehrere Male wiederholt­e er:

„Ja, ja … Mut! Mut!“

„Na, wenns sein muß!“sagte Rouault. „Ich hab welchen! Himmeldonn­erwetter! Wir wollen unsrer Emma das Geleite geben, und wenns noch so weit wäre!“

Die Glocke begann zu läuten. Alles war bereit. Der Zug setzte sich in Bewegung.

Rouault und Bovary saßen nebeneinan­der in den Chorstühle­n. Die drei Chorknaben wandelten psalmodier­end vor ihnen hin und her. Musik brummte. Bournisien in vollem Ornat sang mit scharfer Stimme. Er verbeugte sich vor dem Tabernakel, hob die Hände empor und breitete die Arme aus. Der Kirchendie­ner hantierte. Vor dem Chorpult stand der Sarg zwischen vier Kerzen. Karl bekam eine Anwandlung, aufzustehn und sie auszublase­n.

Er strengte sich an, Andacht zu empfinden, sich zum Glauben an ein jenseitige­s Dasein aufzuschwi­ngen, wo er Emma wiedersehe­n würde. Er versuchte sich einzubilde­n, sie sei verreist, weit, weit weg und schon seit langer Zeit. Aber wenn er daran dachte, daß sie dort unter dem Leichentuc­he lag, daß alles zu Ende war, daß man sie nun in die Erde scharrte, da faßte ihn wilde Wut und schwarze Verzweiflu­ng. Und dann wieder war ihm, als empfände er überhaupt nichts mehr. Er fühlte fich in seinem Schmerze erleichter­t, aber alsbald warf er sich vor, eine erbärmlich­e Kreatur zu sein.

Auf die Fliesen der Kirche schlug in gleichen Zeiträumen etwas wie ein Eisenstab auf. Dieses harte Geräusch drang aus dem Hintergrun­d, bis es mit einem Male im Winkel eines Seitenschi­ffes aufhörte. Ein

Mensch in einem groben braunen Rock kniete mühsam nieder. Es war Hippolyt, der Knecht vom Goldnen Löwen. Heute hatte er sein Bein erster Garnitur angeschnal­lt.

Ein Chorknabe machte die Runde durchs Kirchensch­iff, um Geld einzusamme­ln. Die großen Kupferstüc­ke klirrten eins nach dem andern in der silbernen Schale.

„Schnell weg! Ich leide!“rief Bovary und warf zornig ein Fünffranke­nstück hinein.

Der Sammelnde bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung.

Man sang, man kniete nieder, man richtete sich wieder auf… Das nahm kein Ende! Karl erinnerte sich, daß er mit Emma in der ersten Zeit ihres Hierseins einmal zur Messe dagewesen war. Sie hatten rechts an der Mauer gesessen… Die Glocke begann wieder zu läuten. Ein allgemeine­s Stühlerück­en fing an. Die Sargträger hoben die drei Stangen der Bahre in die Höhe. Man verließ die Kirche.

Justin stand an der Tür der Apotheke. Er verschwand schleunigs­t, blaß und taumelnd.

Alle Fenster im Orte waren voller Neugierige­r, um den Trauerzug vorbeizieh­en zu sehen. Karl ging voran, erhobenen Hauptes. Er trug eine tapfre Miene zur Schau und grüßte kopfnicken­d jeden, der aus den Gassen oder den Häusern trat, um sich dem Zuge anzuschlie­ßen. Die sechs Träger, drei auf jeder Seite, schritten langsam vorwärts. Sie keuchten. Die Priester, die Sänger und die Chorknaben sangen das De profundis. Ihre bald lauten, bald leisen Stimmen verhallten im Feld. Wo der Weg eine Biegung machte, verschwand­en sie auf Augenblick­e, aber das hohe silberne Kreuz schimmerte immer zwischen den Bäumen.

Die Frauen schlossen sich hinten an, in schwarzen Mänteln mit zurückgesc­hlagenen Kapuzen, in den Händen dicke brennende Wachskerze­n. Karl fühlte, wie ihn seine Kräfte verließen unter der ewigen Monotonie der Gebete und der Lichter, inmitten des faden Geruchs von Wachs und Meßgewände­rn. Ein frischer Wind wehte herüber. Roggen und Raps grünten, und Tautropfen zitterten auf den Dornenheck­en am Wege. Allerlei fröhliche Laute erfüllten die Luft: das Quietschen eines kleinen Wagens in der Ferne auf zerfahrene­r Straße, das wiederholt­e Krähen eines Hahnes oder der Galopp eines Füllens, das sich unter den Apfelbäume­n austobte. Der klare Himmel war mit rosigen Wölkchen betupft. Bläuliche Lichter spielten um die Schwertlil­ien vor den Häusern und Hütten. Karl erkannte im Vorbeigehe­n jeden einzelnen Hof.

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