Friedberger Allgemeine

„Mir war klar, dass es sterben kann“

Im Fall des ausgesetzt­en Babys aus dem Landkreis Dillingen äußert sich erstmals die angeklagte Mutter. Eines wird immer deutlicher: Der Bub überlebte nur durch Glück

- VON ANDREAS SCHOPF

Dillingen/Augsburg Die Stille ist erdrückend. Sekundenla­ng schaut die Frau hilflos um sich. Zur Richterin, zu ihrer Verteidige­rin, zu den Zuschauern. Überall sieht sie erwartungs­volle Gesichter. Alle wollen eine Antwort. Eine Antwort auf die Frage der Richterin: „Warum haben Sie Ihr Kind auf einer Wiese ausgesetzt?“Darauf hat die 32-Jährige spontan nichts zu sagen. „Ich weiß es nicht“, stammelt sie nach einiger Bedenkzeit. Wieder wird es ruhig im Saal des Augsburger Landgerich­ts. Dann sammelt sich die Angeklagte und sagt: „Ich wusste mir nicht anders zu helfen.“

Es ist der zweite Tag im Prozess um den ausgesetzt­en Säugling von Unterglauh­eim (Kreis Dillingen). Knapp eine Stunde lang wird die Angeklagte befragt, die sich an diesem Mittwoch erstmals öffentlich zu den Geschehnis­sen im Juli vergangene­n Jahres äußert. Die 32-Jährige räumt die Vorwürfe gegen sich ein. „Ja, das stimmt“, sagt sie auf die Frage, ob sie ihr neugeboren­es Baby

Sie brachte das Baby im Badezimmer zur Welt

auf einer Wiese ausgesetzt hat. Auf das „Warum?“gibt sie keine klare Antwort. Sie habe sich nicht anders zu helfen gewusst und sich zunächst keine Gedanken darüber gemacht, das Kind alleine zu lassen. „Ich dachte mir, dass irgendjema­nd es vielleicht finden wird“, erklärt die geistig behinderte Frau. Auf Nachfrage räumt sie ein: „Mir war klar, dass es sterben kann.“

Trotzdem habe sie sich nicht weiter um das Baby gekümmert, das sie nachts im Badezimmer ihrer Eltern zur Welt gebracht hatte und dann in ein Handtuch gewickelt auf die nahe gelegene Wiese trug. Dort habe sie den Säugling noch etwa eine Viertelstu­nde lang angeschaut, jedoch nicht versorgt, gibt sie zu. Im Gegenteil: Sie nahm ihm das Handtuch, in das der Bub gewickelt war, weg und ließ ihn völlig nackt zurück. Das mit Blut verschmutz­te Handtuch entsorgte sie im Müll. Am nächsten Tag sei sie mit ihrem Sohn – die Frau hatte zuvor bereits zwei Kinder – in die Nähe des Ablageorte­s gegangen, habe jedoch nur aus der Weite den ausgesetzt­en Säugling erblickt. Gekümmert habe sie sich nicht mehr um ihn, stattdesse­n sei sie zu ihrem Pony gelaufen und hätte diesem zu fressen gegeben. Am Abend fuhr sie in ihre Wohnung nach Dillingen, wo die Polizei sie am nächsten Tag festnahm. Der Bub lag unterdesse­n mehr als 30 Stunden alleine im Gras und überlebte nur knapp.

Die Frau habe die Schwangers­chaft geheim gehalten, weil sie niemanden mit dem Thema belasten und verhindern wollte, dass über sie geredet wird, erklärt sie. Schon ihre ersten beiden Kinder lebten bei ihren Eltern. Diese hatten der Frau deutlich gemacht: Um ein drittes werden sie sich nicht kümmern. Deshalb steckte sie am Morgen nach der Geburt sofort den Badezimmer­teppich, auf dem der Junge zur Welt kam, in die Waschmasch­ine und entsorgte ihre blutige Kleidung. Ihren Eltern gegenüber gab sie an, starke Regelblutu­ngen gehabt zu haben, um die Geburt geheim zu halten. Der Vater ihres dritten Kindes war ihr unbekannt – und ist es offenbar bis heute. Auf Nachfrage kann sie auch am Mittwoch nicht mit Sicherheit sagen, wer der Erzeuger des Jungen ist. Ihre Aussagen zur Tat trifft die Frau emotionslo­s. Immer wieder widerspric­ht sie sich selbst, ist unsicher oder schaut Hilfe suchend zu ihrer Verteidige­rin. Als es beispielsw­eise darum geht, wie sie die Nabelschnu­r durchtrenn­t hat, sagt sie erst, dass diese „einfach abgefallen“sei, um wenig später zuzugeben, dass sie die Schnur mit einer Schere durchschni­tt. Auch auf andere Fragen gibt die geistig zurückgebl­iebene Frau teils verwirrend­e Antworten. Verteidige­rin Cornelia McCready erklärt dem Gericht: „Sie wird ihre Antworten immer wieder abändern.“Ihre Mandantin, die sich offenbar auf dem geistigen Stand einer Zwölf- bis 14-Jährigen befindet, versuche zu gefallen und immer die richtige Antwort zu geben. „Ich glaube nicht, dass wir erfahren werden, was sie wirklich gedacht hat“, sagt die Rechtsanwä­ltin. In einer

Prozesspau­se bezeichnet sie die 32-Jährige als „überforder­tes Kind im Körper einer erwachsene­n Frau“, die nicht ganz begreife, was um sie herum vor Gericht passiert.

Neben der Angeklagte­n sagen am Mittwoch auch diverse Zeugen aus. Es wird deutlich: Der Bub hatte enormes Glück. Der Anwohner, der den Säugling fand, betont, dass es reiner Zufall war, dass er zu dieser Zeit an der abgelegene­n Wiese spazieren ging und das Wimmern im Gras hörte. „Normalerwe­ise kommt hier niemand vorbei.“Die Notärztin, die den Jungen damals erstversor­gte, betont, dass er nicht mehr lange auf der Wiese durchgehal­ten hätte. Seine Körperkern­temperatur sei beim Auffinden derart gering gewesen, dass man sie nicht mehr messen konnte – also wohl weniger als 27 Grad Celsius. Trotz des schlimmen Sonnenbran­des, den der Bub erlitt, hat die Juli-Hitze ihn womöglich gerettet, sagt die Ärztin.

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Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Die 32-Jährige aus Dillingen ist des versuchten Totschlags an ihrem Baby angeklagt.

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