Minimalziel erreicht, aber nicht mehr
Die EU ist erleichtert, dass es überhaupt einen Brexit-Vertrag gibt. Doch Boris Johnson lässt sich in London als Held feiern. Dabei spricht vieles gegen ihn
Die frohe Botschaft verkündeten die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson – wie passend – an Heiligabend. Brüssel und London hatten sich endlich auf ein Handelsabkommen geeinigt. Inzwischen haben sich auch Deutschland und die übrigen EU-Staaten hinter den BrexitHandelspakt gestellt. In Berlin wertete das Bundeskabinett unter Leitung von Kanzlerin Angela Merkel das Abkommen positiv. In Brüssel votierten die EU-Botschafter für die vorläufige Anwendung ab 1. Januar. Es herrscht spürbare Erleichterung angesichts des glücklichen Ausgangs dieses Krimis. Viereinhalb Jahre nach dem Referendum tickt die Uhr nicht länger.
Während sich Unternehmer wie Landwirte wenige Tage vor Ablauf der Übergangsfrist am 31. Dezember an die neuen Gegebenheiten anpassen müssen, kommt der Last-Minute-Deal vor allem Premierminister Boris Johnson gelegen. Nicht nur, dass er dem von Corona-Beschränkungen, Brexit-Dramen, leer geräumten Supermärkten deprimierten Volk eine positive Nachricht überbringen konnte. Die BrexitHardliner in den konservativen Reihen haben jetzt kaum noch Zeit, das
Kleingedruckte des Vertrags durchzugehen und diesen in der Luft zu zerreißen. Der radikale europaskeptische Tory-Flügel wäre ohnehin erst zufrieden, wenn alle Bande mit der EU gekappt und im Königreich künftig die Regeln der Welthandelsorganisation greifen würden. Dazu kommt es nun glücklicherweise nicht.
Handelt es sich also um einen Triumph für Johnson, wie seine Anhänger seit Tagen tönen? Noch bevor der weiße Rauch aufstieg, verbreitete Downing Street den Dreh, man habe die EU niedergerungen. Das Getöse vom großen Sieg erinnert an lächerliche Muskelspiele, aber der Wettbewerbsgedanke ist typisch für die britische Politik. Tatsächlich ist es weder Triumph noch Tragödie. Natürlich betonen beide Seiten ihre Erfolge, um das Abkommen vor dem jeweiligen Heimatpublikum verkaufen zu können. Und natürlich darf man bewundern, dass entgegen allen Prognosen in nur wenigen Monaten ein Paket geschnürt wurde. Die Wahrheit aber ist, dass eine Einigung lediglich zustande kam, weil die Partner Kompromisse, in einigen Bereichen sehr schmerzhafte und einschneidende, eingegangen sind. Das ist insbesondere der Fall für Großbritannien.
Weder hat Johnson für die Fischer geliefert, was er versprochen hat, noch konnte er den Finanzsektor beruhigen. Er hat es aber mit geschickter PR und mit freundlicher Unterstützung der konservativen Presse verstanden, den Deal als Gewinn zu präsentieren. Und außerhalb der Experten-Blase scheint sich nun kaum jemand für die komplizierten Details zu interessieren. Die Frage ist, was nächstes Jahr passiert und wie die Bevölkerung darauf reagieren wird.
Denn der Verweis auf die berühmte Souveränität, die das Königreich angeblich zurückgewonnen hat, wird keineswegs die verlorenen Arbeitsplätze und den bürokratischen Aufwand, der künftig beim Import wie Export anfällt, wettmachen. Irgendwann mag der EUAustritt Vorteile bringen, wer weiß. Und man sollte den Briten nur das Beste zum Abschied wünschen. Kurz- und mittelfristig aber dürfte die brutale Realität die ideologisch geprägten Märchengeschichten von einer goldenen Zukunft ersetzen. Denn natürlich werden die Beeinträchtigungen, Umwälzungen und Schäden für das Königreich massiv ausfallen. Immerhin sieht die politische wie wirtschaftliche Beziehung zwischen dem Kontinent und Großbritannien ab 2021 fundamental anders aus.
Gleichwohl darf man es als absurd bezeichnen, dass das britische Parlament, das sich in den vergangenen vier Jahren über jedes noch so kleine Detail im Brexit-Prozess fast zerfleischt hat, am morgigen Mittwoch ein 1246 Seiten langes komplexes Dokument ratifizieren wird, das die Abgeordneten nicht oder nur zu einem kleinen Teil geprüft haben. Das offenbart den Wahnsinn, der den Namen Brexit trägt. Dass die Parlamentarier die Vorlage ablehnen, ist ausgeschlossen, auch weil die Opposition für den Deal stimmen will. Labour unterstützt damit den Brexit-Obercheerleader Boris Johnson – ein Schritt, der sich irgendwann rächen wird. Denn von einem fantastischen Deal, wie er den Menschen über Jahre versprochen wurde, sind wir weit entfernt. Mit der Einigung wurde das Minimalziel erreicht, es ist besser als kein Abkommen. Das aber war es auch schon.
Die Ansprüche sind leider seit dem Referendum 2016, nach all den zermürbenden Streitereien und der spürbaren Spaltung der Gesellschaft, so weit gesunken, dass man zum Abschluss des Jahres 2020 schon froh über dieses Ergebnis ist. Der Premierminister, schwer gebeutelt von der CoronaPandemie, lässt sich wieder einmal als Held feiern. Abzuwarten bleibt, wie lange es dauert, bis der EUAustritt endgültig seine zerstörerische Kraft entfaltet – und ob Johnson dann zur Verantwortung gezogen wird.