Jugend in der Krise
Jungsein lässt sich nachholen, sagen Politiker, wenn sie neue Corona-Maßnahmen verkünden. Wirklich? Nein, findet unser Autor, 24. Die Pandemie beraubt eine Generation gerade der abenteuerlichsten Zeit ihres Lebens
Das Jungsein lässt sich nachholen, sagen Politiker, wenn sie neue Corona-Maßnahmen verkünden. Nein, findet unser Autor. Die Pandemie beraubt uns der abenteuerlichsten Zeit des Lebens.
In einer Zeit ohne Lockdown, FFP2-Masken und 83 Millionen deutsche Hobby-Virologen hätte ich nach Silvester ziemlich schnell meine Sachen gepackt. Ich hätte meine Studentenbude in Rom bezogen, die Prüfungen für mein Auslandssemester geschrieben und mich anschließend mit mediokrem Italienisch bis nach Sizilien hinunter gekämpft. Im Gepäck nach Hause eine neue Kultur, neue Freunde, neue Erfahrungen, einen neuen überzeugenden Stichpunkt in meinen Bewerbungsunterlagen.
Die Realität: Zum letzten Mal in Rom war ich im Grundschulalter. Als sich im Frühling in der Lombardei die Leichen stapelten, habe ich mein Auslandssemester abgesagt. Jetzt liegt mein Campus nicht 600 Meter vom Petersdom entfernt, sondern fünf Meter vom eigenen Bett, an einem nussbaumbraunen Schreibtisch, mit Blick hinaus auf den grauen deutschen Virenwinter. Digitales Studium, fast ein ganzes Jahr schon.
Corona verlangt uns allen etwas ab. In Seniorenheimen herrscht die Angst vor dem Sterben in Einsamkeit, auf Intensivstationen die Furcht vor dem Kontrollverlust. Hochzeiten wurden verschoben,
Meisterschaften ohne Fans gefeiert, Kinder verzweifelt in Notbetreuungen geparkt. Es geht jetzt um Leben und Tod, um Existenzen. Disziplin und Einschränkung sind jetzt die bestimmenden Maximen, nicht mehr Selbstverwirklichung und Freiheit. Ich weiß das.
Und dennoch ist es so: Die größten Anpassungsprobleme mit dem von Corona kastrierten Alltag scheint die junge Bevölkerung zu haben. Menschen wie ich, 24, auf die zuletzt oft mit dem Finger gezeigt wurde, die gefragt wurden: Müsst ihr immer feiern? Kann man Jungsein nicht nachholen? Oder, um mit einem Werbespot der Bundesregierung zu sprechen: Bleibt auf der Couch, schaltet die Playstation an und rettet so die Welt.
Ganz so einfach ist es leider nicht. Mitte Dezember traf sich die Bundeskanzlerin mit Studierenden zu einem Online-Gespräch. Was, wenn der Nebenjob wegbricht, fragten sie, wenn Praktika nicht stattfinden, nichts mehr wert sind? In den Gruppenchat meiner Clique schickte jemand letztens einen Artikel zu den neuesten Pandemiemaßnahmen. Darunter schrieb er: „Ciao, Leben!“Soziologen sehen bereits eine frustrierte Generation Corona heranwachsen – mit langfristigen Folgen in der Lebensplanung: verpasste Gelegenheiten, ein schwerer Jobeinstieg.
Ein Freund, frisches Erstsemester, erzählte mir: „Ich weiß gar nicht, wie sich richtiges Studieren überhaupt anfühlt.“Er kenne ja noch nicht mal seine neuen Kommilitonen, weil im Kurs keiner die Webcam anmache. Gesichter, die man sonst auf einen Kaffee nach der Uni kennenlernt, die sich nach dem Studium in alle Welt verteilen und trotzdem potenzielle Freunde fürs Leben bleiben – sie erscheinen ihm nun als graue Kacheln in einer Videokonferenz.
In meinem Studiengang gab es einen standhaften Kurs. Wir trafen uns donnerstags in Präsenz, um über die deutsche EU-Ratspräsidentschaft oder den Brexit zu diskutieren. 20 Studierende, in einem Saal mit zehnmal so vielen Klappstühlen, mit Maske, mit Abstand, mit Winterjacke, weil Lüften. Es hatte nichts gemein mit einem normalen Seminar – und war doch ein Stück weit lang ersehnte Normalität. Ende November ließ die Professorin per Handzeichen abstimmen, ob der Kurs noch analog oder eben digital stattfinden solle. Die Mehrzahl wollte weiterhin kommen. Am nächsten Tag war Präsenzunterricht von der Politik gänzlich verboten.
Nie verändert sich das Leben so radikal wie in den Zwanzigern. Man tritt ein als junges unsicheres Menschlein, auf der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsensein. Und kommt hinaus mit Ehering, sicherem Einkommen und gefestigtem Platz auf der Welt. Im Optimalfall.
Doch wie auf die große Liebe treffen, wenn typische Andockpunkte – die Disco, das Café um die Ecke, die Universität – virale Absperrzonen sind? Wie ins Berufsleben starten, wenn Praktika gerade eben nicht gehen, wenn Corona den Arbeitsmarkt dermaßen durchseucht hat, dass es in manchen Zweigen schwierig ist, überhaupt einen Job zu finden? Wie sich irgendwie festigen in diesem LebensabJobzusagen schnitt, wenn die Welt um einen herum ins Wanken gerät?
Es ist eben nicht zwangsweise so, wie man es den Jungen jetzt vorhält, dass sich Dinge aufschieben lassen, dass das alles wieder zurückkommt: Das unbeschwerte In-denTag-hinein-Leben, WG-Partys, verschwitzte Clubnächte oder das Auslandssemester in Rom. Die Zeiten des sorglosen Studierens bis Ende 20 sind Geschichte. Seit der sogenannten Bologna-Reform ist ein Bachelorabschluss so durchgetaktet wie der Ablauf einer Ministerpräsidentenkonferenz. Ehe man sich versieht, steht das Spießertum vor der Tür, der Ernst des Lebens, der Nine-to-five-Job, die eigene Familie vielleicht, die Verantwortung.
Im Prinzip sind diese Zeilen nichts anderes als ein therapeutisches Anschreiben gegen die Angst, dass Corona die große Zäsur ist, bevor das Erwachsenenleben endgültig beginnt.
Es gibt Dinge, für die hat man in der Regel nur kleine Zeitfenster, weil sie eine gewisse Ungebundenheit voraussetzen – der BalkanRoadtrip etwa, auf den ich mit drei alten Schulfreunden vor meinem Abschied nach Italien aufbrechen wollte. Noch ist dieses Fenster gekippt. Aber mit 24 Jahren merke ich, wie es sich langsam schließt.
Man kann die Verlustängste junger Menschen als dekadente ErsteWelt-Sicht abtun, auf die Alternativlosigkeit der Einschränkungen verweisen und fragen: Was interessiert mich dein verpasstes Jahr, wenn Tag für Tag geliebte Menschen röchelnd um ihr Leben kämpfen? Zu Recht. Die Probleme der Jugend sind mit dem Sterben der Alten und Schwachen niemals gleichzusetzen.
Vielmehr geht es um einen kurzen Perspektivwechsel, um etwas mehr Verständnis für den Missmut einer Generation, die jahrelang nichts anderes kannte als Aufschwung und Freiheit. Die große weite Welt lag ihr zu Füßen, alles schien möglich, the sky was the limit. Dieser Generation klaut ein Virus gerade die schönste und abenteuerlichste Zeit ihres Lebens.
Fabian Huber, 24, hat in Eichstätt und Washington Journalistik studiert. Zurzeit macht er einen Master in Internationale Beziehungen.
Bleibt auf der Couch? So einfach ist es leider nicht