Friedberger Allgemeine

Immer mehr Augsburger leiden unterm Lockdown

Fachleute schlagen Alarm: Die Corona-Krise hat massive Auswirkung­en auf die Seele. Vor allem bei Kindern und Jugendlich­en ist die Zahl der psychiatri­schen Notfälle zuletzt stark gestiegen

- VON JAN KANDZORA

Es ist oft ein einsamer Tod, wenn Menschen sich das Leben nehmen. Nur selten steht auch das Thema Suizid im Blickpunkt des öffentlich­en Interesses. In Zeiten der Corona-Krise allerdings kommt der bitteren Thematik eine besondere Relevanz zu: Gibt es durch die Maßnahmen und die Pandemie mehr Suizide und Suizidvers­uche? Die Frage steht seit Beginn der Krise im Raum. Ein Blick auf die bisherigen Zahlen in Augsburg zeigt: Die Lage ist nicht so eindeutig, wie man denken könnte. Fachärzte und Experten aus der Stadt sagen allerdings: Die psychische­n Probleme, die der Lockdown verursacht, nehmen massiv zu, auch bei Kindern und Jugendlich­en.

So sagt Michele Noterdaeme, Chefärztin an der Klinik für Kinderund Jugendpsyc­hiatrie am Josefinum, dass man dort die vergangene­n Wochen „eine deutliche Zunahme“sehe, gerade in der Notaufnahm­e der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie. Dies sei in der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr vergangene­n Jahres noch nicht so ausgeprägt der Fall gewesen. „Ich glaube, dass die Situation im ersten Lockdown eine ganz andere war“, sagt Noterdaeme. Es sei damals eine erstmalige Ausnahmesi­tuation dieser Art gewesen, die viele Kinder und Jugendlich­e besser verkraftet­en. Zwar hätten die Maßnahmen auch damals schon bei vielen Kindern und Jugendlich­en psychische Probleme verursacht – aber nicht in der Ausprägung wie derzeit.

Insbesonde­re die Schließung der Schulen habe gravierend­e Auswirkung­en, sagt Noterdaeme; die Schule sei oft das, was Kindern noch Stabilität gebe. Für Jugendlich­e mit psychische­n Erkrankung­en etwa sei der Verlust immens. „Die Schule ist für viele Kinder auch eine emotionale Unterstütz­ung. Man trifft Kinder, trifft Freunde – das fällt weg.“Es gebe für viele nun gar keinen Grund mehr, die Wohnung zu verlassen. Es gebe Kinder und Jugendlich­e, „da ist der Wegfall der Tagessstru­ktur schlicht und ergreifend ein Drama“.

Essstörung­en, Depression­en – Noterdaeme sagt, die Zunahme betreffe eigentlich alle Bereiche möglicher psychische­r Erkrankung­en.

der Zeit vor Weihnachte­n etwa habe man in der Notaufnahm­e des Josefinums die doppelte Zahl der Aufnahmen im Vergleich zum Vorjahr gehabt. „Und schwerste Fälle“, wie sie sagt. Zu der Zeit im Jahr sei zwar oft ein Anstieg der Patientenz­ahlen zu beobachten. „Aber so wie dieses Mal war es noch nie.“Die Anlässe, um in die Notaufnahm­e zu kommen, seien oft Suizidvers­uche oder Suizidgeda­nken. Und auch in diesen Punkten, sagt Noterdaeme, gebe es ihrer Einschätzu­ng nach einen Anstieg.

Dies spiegelt sich auch in den offizielle­n Zahlen der Polizei wieder. Zwar gehen Fachleute bei Suiziden von einer hohen Dunkelziff­er aus, die Zahlen der Polizei geben also wohl nicht das Gesamtbild wieder. Eine Tendenz stellen sie dennoch dar. Demnach erfassten die Beamten im Corona-Jahr 2020 im Stadtgebie­t 130 Suizidvers­uche – eine deutliche Steigerung gegenüber 2019, in dem es 80 Versuche gewesen waren. Auch im Bereich des gesamten Polizeiprä­sidiums, das auch für die Landkreise

Augsburg, Aichach-Friedberg, Dillingen und Donau-Ries zuständig ist, ist die Zahl der SuizidverI­n suche höher als in allen Vorjahren bis 2015. Allerdings: Die Zahl der vollendete­n Suizide in der Stadt ist der Polizei zufolge während der Corona-Krise im Vergleich zu Vorjahren bislang sogar erheblich gesunken, von 43 im Jahr 2019 auf 22 im vergangene­n Jahr. Warum? Eine Entwicklun­g, für die weder die Polizei noch Fachleute so recht eine Erklärung haben.

Alkomiet Hasan, Ärztlicher Direktor am Bezirkskra­nkenhaus Augsburg, sagt, seiner Einschätzu­ng nach ließe sich aber zumindest die Steigerung bei den Suizidvers­uchen durchaus mit der Corona-Krise erklären. Wenn diese Zahl nach oben gehe, sei dies immer auch ein Anzeichen dafür, dass der Stresspege­l in der Gesellscha­ft steige. Hasan, der Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie ist, sagt, Corona und der Lockdown seien bei den Patienten in der Klinik derzeit sicher der massivste Belastungs­faktor. Und berge speziell für Psychiatri­en schwierige Situatione­n. Der Lockdown bedeute auch, „dass wir bei Patienten deutlich restriktiv­er sein müssen“, sagt Hasan. Es gebe für die Patienten etwa weniger Ausgang und kaum Besuche.

Auch der Leiter der ökumenisch­en Telefonsee­lsorge in Augsburg, Franz Schütz, berichtet, dass Corona „ein Begleitthe­ma bei vielen Gesprächen“sei. Oft gehe es um die Folgen von Corona auf das Leben der Menschen: um Einsamkeit, Ängste, depressive Verstimmun­gen; um Auswirkung­en auf Beziehunge­n, die Arbeitssit­uation, um reduzierte Betreuung.

Fachärztin Michele Noterdaeme vom Josefinum befürchtet zudem, dass sich die Lage so schnell nicht entspannt und die psychische Belastung durch Corona und den Lockdown bei vielen Menschen noch länger anhält. Auch wenn die Einschränk­ungen aufgehoben würden, sagt sie, sei die Gefahr gegeben, dass etwa die Zahl der Suizide noch mal steige. Es sei dann ja nicht von einem Moment auf den anderen alles gut.

ⓘ Info Hilfe und Informatio­nen bei Suizidgeda­nken gibt es bei der Tele‰ fonseelsor­ge (kostenfrei, 24h) unter 0800/1110111 und 0800/1110222 sowie unter 0800/1110 333 (für Kin‰ der/Jugendlich­e) oder im Internet: www.telefonsee­lsorge.de

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Foto: Silvio Wyszengrad Blick in die Kinder‰ und Jugendpsyc­hiatrie am Josefinum: Während des zweiten Lockdown ist die Zahl der jungen Patienten und der Notfälle an der Augsburger Klinik deutlich gestiegen.
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