Immer mehr Augsburger leiden unterm Lockdown
Fachleute schlagen Alarm: Die Corona-Krise hat massive Auswirkungen auf die Seele. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen ist die Zahl der psychiatrischen Notfälle zuletzt stark gestiegen
Es ist oft ein einsamer Tod, wenn Menschen sich das Leben nehmen. Nur selten steht auch das Thema Suizid im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. In Zeiten der Corona-Krise allerdings kommt der bitteren Thematik eine besondere Relevanz zu: Gibt es durch die Maßnahmen und die Pandemie mehr Suizide und Suizidversuche? Die Frage steht seit Beginn der Krise im Raum. Ein Blick auf die bisherigen Zahlen in Augsburg zeigt: Die Lage ist nicht so eindeutig, wie man denken könnte. Fachärzte und Experten aus der Stadt sagen allerdings: Die psychischen Probleme, die der Lockdown verursacht, nehmen massiv zu, auch bei Kindern und Jugendlichen.
So sagt Michele Noterdaeme, Chefärztin an der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie am Josefinum, dass man dort die vergangenen Wochen „eine deutliche Zunahme“sehe, gerade in der Notaufnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dies sei in der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr vergangenen Jahres noch nicht so ausgeprägt der Fall gewesen. „Ich glaube, dass die Situation im ersten Lockdown eine ganz andere war“, sagt Noterdaeme. Es sei damals eine erstmalige Ausnahmesituation dieser Art gewesen, die viele Kinder und Jugendliche besser verkrafteten. Zwar hätten die Maßnahmen auch damals schon bei vielen Kindern und Jugendlichen psychische Probleme verursacht – aber nicht in der Ausprägung wie derzeit.
Insbesondere die Schließung der Schulen habe gravierende Auswirkungen, sagt Noterdaeme; die Schule sei oft das, was Kindern noch Stabilität gebe. Für Jugendliche mit psychischen Erkrankungen etwa sei der Verlust immens. „Die Schule ist für viele Kinder auch eine emotionale Unterstützung. Man trifft Kinder, trifft Freunde – das fällt weg.“Es gebe für viele nun gar keinen Grund mehr, die Wohnung zu verlassen. Es gebe Kinder und Jugendliche, „da ist der Wegfall der Tagessstruktur schlicht und ergreifend ein Drama“.
Essstörungen, Depressionen – Noterdaeme sagt, die Zunahme betreffe eigentlich alle Bereiche möglicher psychischer Erkrankungen.
der Zeit vor Weihnachten etwa habe man in der Notaufnahme des Josefinums die doppelte Zahl der Aufnahmen im Vergleich zum Vorjahr gehabt. „Und schwerste Fälle“, wie sie sagt. Zu der Zeit im Jahr sei zwar oft ein Anstieg der Patientenzahlen zu beobachten. „Aber so wie dieses Mal war es noch nie.“Die Anlässe, um in die Notaufnahme zu kommen, seien oft Suizidversuche oder Suizidgedanken. Und auch in diesen Punkten, sagt Noterdaeme, gebe es ihrer Einschätzung nach einen Anstieg.
Dies spiegelt sich auch in den offiziellen Zahlen der Polizei wieder. Zwar gehen Fachleute bei Suiziden von einer hohen Dunkelziffer aus, die Zahlen der Polizei geben also wohl nicht das Gesamtbild wieder. Eine Tendenz stellen sie dennoch dar. Demnach erfassten die Beamten im Corona-Jahr 2020 im Stadtgebiet 130 Suizidversuche – eine deutliche Steigerung gegenüber 2019, in dem es 80 Versuche gewesen waren. Auch im Bereich des gesamten Polizeipräsidiums, das auch für die Landkreise
Augsburg, Aichach-Friedberg, Dillingen und Donau-Ries zuständig ist, ist die Zahl der SuizidverIn suche höher als in allen Vorjahren bis 2015. Allerdings: Die Zahl der vollendeten Suizide in der Stadt ist der Polizei zufolge während der Corona-Krise im Vergleich zu Vorjahren bislang sogar erheblich gesunken, von 43 im Jahr 2019 auf 22 im vergangenen Jahr. Warum? Eine Entwicklung, für die weder die Polizei noch Fachleute so recht eine Erklärung haben.
Alkomiet Hasan, Ärztlicher Direktor am Bezirkskrankenhaus Augsburg, sagt, seiner Einschätzung nach ließe sich aber zumindest die Steigerung bei den Suizidversuchen durchaus mit der Corona-Krise erklären. Wenn diese Zahl nach oben gehe, sei dies immer auch ein Anzeichen dafür, dass der Stresspegel in der Gesellschaft steige. Hasan, der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist, sagt, Corona und der Lockdown seien bei den Patienten in der Klinik derzeit sicher der massivste Belastungsfaktor. Und berge speziell für Psychiatrien schwierige Situationen. Der Lockdown bedeute auch, „dass wir bei Patienten deutlich restriktiver sein müssen“, sagt Hasan. Es gebe für die Patienten etwa weniger Ausgang und kaum Besuche.
Auch der Leiter der ökumenischen Telefonseelsorge in Augsburg, Franz Schütz, berichtet, dass Corona „ein Begleitthema bei vielen Gesprächen“sei. Oft gehe es um die Folgen von Corona auf das Leben der Menschen: um Einsamkeit, Ängste, depressive Verstimmungen; um Auswirkungen auf Beziehungen, die Arbeitssituation, um reduzierte Betreuung.
Fachärztin Michele Noterdaeme vom Josefinum befürchtet zudem, dass sich die Lage so schnell nicht entspannt und die psychische Belastung durch Corona und den Lockdown bei vielen Menschen noch länger anhält. Auch wenn die Einschränkungen aufgehoben würden, sagt sie, sei die Gefahr gegeben, dass etwa die Zahl der Suizide noch mal steige. Es sei dann ja nicht von einem Moment auf den anderen alles gut.
ⓘ Info Hilfe und Informationen bei Suizidgedanken gibt es bei der Tele fonseelsorge (kostenfrei, 24h) unter 0800/1110111 und 0800/1110222 sowie unter 0800/1110 333 (für Kin der/Jugendliche) oder im Internet: www.telefonseelsorge.de