Händler flehen die Kanzlerin an
Unternehmer fordern, nicht nur auf Pandemie-Werte zu schauen: „So lernen wir nie, mit dem Virus zu leben.“Es brauche Regeln, damit Kunden weiter mit einem Termin bei ihnen einkaufen können. Sonst wird die Lage düster
Augsburg/Berlin Im Einzelhandel sind die Sorgen groß, dass ein neuer Lockdown den Betrieben keine Luft mehr zum Atmen lässt. Der Chef des Bekleidungsunternehmens s.Oliver, Claus-Dietrich Lahrs, fordert, die Öffnung des Handels nicht länger von Inzidenzwerten abhängig zu machen: „Aus unserer Sicht ist es unzureichend, sich an blanke Inzidenzwerte zu klammern“, sagt er unserer Redaktion: „So lernen wir nie, mit dem Virus zu leben.“Und weiter: „Es muss zu einer echten Risikoabwägung kommen, die andere Indikatoren wie die Intensivbettenbelegung oder die Impfrate einbezieht, so schlägt es auch das RobertKoch-Institut vor.“
An diesem Montag will Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten über das weitere Vorgehen in der CoronaPolitik beraten. Angesichts wieder steigender Ansteckungszahlen deutete sich zuletzt an, dass der Lockdown wieder verschärft werden könnte. Ärztevertreter und Gesundheitspolitiker sehen die steigenden Fallzahlen mit großer Sorge.
Der Deutsche Handelsverband (HDE) warnte dagegen vor neuen Verschärfungen für den Handel. Durch die ersten Öffnungsschritte hätten viele Händler ein kleines Licht am Ende des Tunnels gesehen, teilte der Verband mit. Eine Rückkehr in den Lockdown würde ihnen die Perspektive rauben. „Unter Händlern herrscht Einigkeit. Wir müssen jetzt die flächendeckende Öffnung des Handels angehen und das Impftempo erhöhen. An den Entscheidungen am Montag hängen Existenzen“, warnte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth.
Die Händler sind überzeugt, dass ihre Geschäfte nicht maßgeblich zur Verbreitung des Virus beitragen. „Wir leisten unseren Beitrag, indem wir umfangreiche Hygienekonzepte umsetzen“, sagt s.Oliver-Chef Lahrs. „Diese haben sich bereits bewährt, das zeigt auch der Lebensmitteleinzelhandel, der in den vergangenen Monaten trotz deutlich höherer Frequenzen nicht als Infektionsquelle aufgefallen ist.“
Der Handel fürchtet einen Niedergang der Innenstädte. „Bund und Länder setzen die Wirtschaft aktuell ganz bewusst einem sehr, sehr hohen Risiko aus“, sagt Lahrs. „Es geht um eine hohe Anzahl von Arbeitsplätzen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Es wird vergessen, dass die Wirtschaft für den Wohlstand sorgt, von dem wir in der aktuellen Krisensituation profitieren.“Der Textilhändler s.Oliver hat sich der Initiative „Das Leben gehört ins Zentrum“angeschlossen, die ein Ausbluten der Innenstädte durch die CoronaKrise vermeiden will. „Wenn die Wirtschaft am Ende am Boden liegt, werden wir unser Land nicht wiedererkennen“, sagt Lahrs.
Von den aktuellen Öffnungsschritten und deren Umsetzung in den Bundesländern zeigen sich die vom Lockdown betroffenen Händler enttäuscht, berichtete der Handelsverband. Dieser hat rund 1000 Handelsunternehmen befragt. Ergebnis: „Rund 80 Prozent fordern die vollständige Öffnung des Einzelhandels unter Einhaltung von Hygieneund Abstandsregeln.“Hoffnung setzen sie auch in Impfungen, die laut 70 Prozent der Befragten schneller durchgeführt werden sollten. Gut die Hälfte der Händler erwartet von Bund und Ländern eine Anpassung der Wirtschaftshilfen unter Berücksichtigung eines Unternehmerlohns.
Die Fortsetzung der aktuellen Maßnahmen könne sich nur ein Zehntel der befragten Händler vorstellen. Händler, die nur Click & Meet anbieten könnten, würden die bisherigen Öffnungsschritte und deren Umsetzung überwiegend als „mangelhaft“einschätzen, so der Handelsverband.
Auch der Bundesverband mittelständische Wirtschaft fordert einen Kurswechsel. In einem Brief an die Kanzlerin betonte Bundesgeschäftsführer Markus Jerger, ganze Branchen wie das Tourismus- und Gastronomiegewerbe oder der Einzelhandel drohten sonst auf Dauer wegzubrechen. Handelsketten warnten ihrerseits in einem Schreiben an Merkel und die Ministerpräsidenten vor einer Rücknahme der erst seit kurzem gültigen, begrenzten Einkaufsmöglichkeiten.
In dem gemeinsamen Brief – etwa von TEDi, KiK, Takko, Ernsting’s family, Butlers und Thalia – heißt es, dem Handel dürfe nicht die Verantwortung für das steigende Inzidenzgeschehen zugeschoben werden. Das Gegenteil sei der Fall, wie man am Beispiel Hannover und Thüringen sehe: „Dort sind die Inzidenzen in den letzten Tagen deutlich gestiegen – ohne dass der Einzelhandel geöffnet hat.“
Die Firmen sehen sich unfair behandelt. „Der Handel bringt große Opfer und wird dafür nicht einmal adäquat kompensiert. Für unsere Branche bedeutet dies ein Geschäftsund Unternehmenssterben auf Raten.“Dies habe auch schlimme Folgen für die Innenstädte. Die Firmenchefs appellieren an die Politik, das Terminshopping beizubehalten. „Lassen Sie uns das Verfahren Click and Meet, am besten ohne Kopplung an Inzidenzwerte, als kleinen Hoffnungsschimmer weiterentwickeln.“
Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft betonte, die „einseitige Fixierung auf den Inzidenzwert“habe sich als falsch erwiesen, weil er das Infektionsgeschehen nur unvollständig abbilde. Die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100000 Einwohner spielt bei politischen Entscheidungen eine große Rolle.
Die Gewerkschaft Verdi betonte, in Regionen mit hohen Inzidenzen müsse die Notbremse gezogen werden. „Umsatzausfälle können ersetzt werden – Menschenleben nicht“, sagte der Vorsitzende Frank Werneke. Er forderte die Arbeitgeber auf, anstelle immer neuer Öffnungsforderungen mehr Tests zur Verfügung zu stellen. Die Selbstverpflichtungserklärung der Arbeitgeberverbände zum Anbieten von mindestens einem Corona-Test je Woche für die eigene Belegschaft funktioniere ganz offensichtlich nicht. Knapp jedes fünfte Unternehmen in Deutschland (19 Prozent) bietet aktuell seinen Mitarbeitern regelmäßig Corona-Tests an, während 28 Prozent der Firmen planen, dies in Kürze zu tun. Das ergab eine Umfrage des Industrie- und Handelskammertags DIHK. Unter den Betrieben, die nicht testen, befinden sich auch viele Firmen, deren Beschäftigte im Homeoffice sind oder vom Lockdown betroffen sind – also Branchen wie die Gastronomie. Je größer die Unternehmen sind, desto häufiger gibt es laut Umfrage vorhandene Teststrategien oder entsprechende Pläne.
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm warnte vor der Gefahr einer sozialen Spaltung in der CoronaKrise. „Die unteren Einkommensgruppen gehören zu den größten Verlierern in der Corona-Krise, in vielfacher Hinsicht“, sagte Grimm. Sie hätten im Durchschnitt eher Einbußen hinnehmen müssen als die mittleren und oberen Einkommensgruppen. „Außerdem arbeiten viele Personen in den unteren Einkommensklassen in Berufen, die jetzt besonderen Belastungen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel im Gesundheitswesen oder in den geöffneten Supermärkten.“