Friedberger Allgemeine

„Ich wäre so gerne mit ihnen gestorben“

Konflikt Sohrab Mayel hat bei einem Bombenansc­hlag in Kabul seinen zweijährig­en Sohn und seine schwangere Frau verloren. Eine Geschichte, die zeigt, welches Leid Afghanista­n nach dem Abzug der internatio­nalen Truppen noch bevorstehe­n dürfte

- VON TAMANA AYAZI UND THORE SCHRÖDER

Kabul Als Sohrab Mayel erfährt, dass der Bus, in dem sein zweijährig­er Sohn und seine hochschwan­gere Frau saßen, explodiert ist, beginnt er zu laufen. Er rennt von seinem Büro bei der Afghan Telecom am Pashtunist­an Square einige hundert Meter durch das verstopfte Zentrum Kabuls bis zu ihrem Arbeitspla­tz im Bildungsmi­nisterium, wo er die beiden am Morgen abgesetzt hat. Dann nimmt er ein Taxi. Immer wieder wählt er ihre Nummer, vergeblich. Zuletzt rennt er wieder, bis zum „Garten der Frauen“, wo die Bombe hochgegang­en ist. Der Bus brennt, ganz hinten, wo Khatra und Arsh Mayel stets saßen, ist das Fahrzeug total deformiert.

Wie Mayel später erzählt, fährt er dann die Krankenhäu­ser ab. Vor dem Emergency Hospital, wo er zitternd inmitten anderer Angehörige­r auf Nachricht wartet, ermahnt sich der junge Vater: „Es wird gut ausgehen. Ich glaube an Gott.“

Keine 24 Stunden später werden Khatra und Arsh Mayel zu Grabe getragen. Der Kopf des Jungen im offenen Sarg ist bandagiert, die vielen Wunden auf seinem Gesicht sind kaum getrocknet. Nach gut einer Stunde liegen Mutter und Sohn nebeneinan­der in der Erde des WaselAbad-Friedhofs. Über den Dächern flattern Drachen im Wind.

Ein Geistliche­r mit Turban und langem Bart macht in seiner Trauerrede „die Ungläubige­n und den Westen“für das Leid verantwort­lich, das die Afghanen immer wieder befällt. Aber Sohrab Mayel will davon nichts wissen. „Ich bin sicher, dass die Person, die diese Bombe gelegt hat, von hier stammt“, sagt er. Auch wenn er wohl nie erfahren werde, wer den Anschlag befahl.

Bei der Attacke auf den Bus, der die Mitarbeite­rinnen des Ministeriu­ms nach Hause bringen sollte, starben am 15. März neben Khatra und Arsh Mayel drei weitere Frauen. Im ganzen Monat wurden in Afghanista­n 305 Menschen bei Anschlägen getötet und 350 verletzt.

Einige wurden durch sogenannte „sticky bombs“, mit Magneten befestigte Sprengladu­ngen, ermordet, andere mit Sturmgeweh­ren exekutiert. In den meisten Fällen gab es keine Bekennersc­hreiben. Die Menschen in diesem Land müssen immer neue Schläge einstecken und wissen oft gar nicht, von wem.

Im Februar 2020 hatten die USA und die radikalisl­amischen Taliban ein Abkommen unterzeich­net, das den Beginn des Abzugs der ausländisc­hen Truppen zum 1. Mai vorsieht. Vor knapp drei Wochen bestätigte US-Präsident Biden den Abschied: Bis spätestens 11. September, wahrschein­lich aber noch deutlich früher, werden die rund 2500 US-Soldaten raus sein – und mit ihnen alle anderen internatio­nalen Kontingent­e, darunter die Bundeswehr mit ihren noch etwa 1100 Soldaten. Der 11. September markiert den 20. Jahrestag der Terroransc­hläge in den USA von 2001 – die der Anlass für den Einsatz waren.

Faktisch begann der Abzug schon vor dem vergangene­n Samstag. Seit Wochen wird Material aus dem Land gebracht. Gleichzeit­ig haben die Taliban ihre Frühjahrso­ffensive gestartet. Schon seit dem Deal mit der Trump-Regierung hatten sie ihren Modus Operandi geändert. Auf komplexe Selbstmord­anschläge müssen sie offenbar verzichten, stattdesse­n arbeiten sie Todesliste­n ab, auf denen Politiker, Aktivisten, Journalist­en oder eben Ministeriu­msmitarbei­terinnen stehen.

Doch auch andere Terrorgrup­pen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) könnten für manche Anschläge verantwort­lich sein, nicht zuletzt auch die Regierung, um die Verhandlun­gen mit den Taliban zu torpediere­n. Einige glauben, den Krieg gewinnen zu können, verfügen sie doch immerhin über rund 300000 Polizisten und Soldaten. Teile der Kabuler Elite haben kein Interesse an Kompromiss­en, obwohl bereits rund 50 Prozent der Bevölkerun­g unter Taliban-Kontrolle lebt und die Armutsquot­e laut Weltbank in Folge der Pandemie auf über 70 Prozent gestiegen ist.

Trotz allem haben sich einige Bürger in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n etwas aufbauen können, die Familie von Sohrab Mayel zum Beispiel. Als Teil der tadschikis­chen Bevölkerun­gsgruppe lebte sie früher in der nördlichen Provinzhau­ptstadt Kundus, die die Taliban in den 90er-Jahren erobert hatte. „Als meine großen Brüder zum Kriegsdien­st eingezogen werden sollten, sind sie geflohen. Schließlic­h gingen wir alle nach Pakistan, erst Jahre später fanden wir uns wieder“, erinnert sich Sohrab Mayel, während er in der Drei-ZimmerWohn­ung der Familie im Nord-Kabuler Viertel Khair Khana grünen Tee einschenkt.

Die Beerdigung seiner Frau und seines Sohnes liegt da schon drei Tage zurück, doch der 31-Jährige trägt noch immer dieselben Jeans und das dasselbe schwarz-weiß karierte Hemd, das er am Tag der Katastroph­e anhatte. „Weil ich das trug, als Arsh das letzte Mal auf meinem Schoß saß“, sagt er.

Seit dem kommunisti­schen Putsch 1978 und dem Einmarsch der Sowjetunio­n im folgenden Jahr kommt Afghanista­n nicht zur Ruhe. Auch nach dem Sturz der Taliban vor bald 20 Jahren kehrte kein Frieden ein. „Afghanista­n war damals eine Wiederaufb­au-Aufgabe“, sagt Thomas Ruttig. Der Deutsche ist Co-Direktor des Forschungs­instituts Afghanista­n Analysts Network. „US-Präsident George W. Bush setzte stattdesse­n auf das Aufspüren versprengt­er Al-Kaida- und Taliban-Reste. Das war eine absolut fehlgeleit­ete Politik“, sagt er.

Den weitaus überwiegen­den Teil der Konsequenz­en tragen stets die

Afghanen, Menschen wie die Mayels. Sohrab Mayel ist der jüngste von vier Brüdern. Besonders die Unterstütz­ung seiner Mutter, die vor fünf Monaten an einem Schlaganfa­ll starb, hat ihm vieles ermöglicht.

In der Ecke seines Zimmers steht ein gerahmtes Foto aus den 70erJahren: Rabia Mayel neben ihrem Mann, mit Lederjacke und offenen Haaren. „Unter den Taliban durfte sie nur als Schneideri­n arbeiten. Danach war sie wieder als Lehrerin tätig“, sagt er und beschreibt, wie die zierliche Frau jeden Morgen eine Dreivierte­lstunde zu Fuß zu ihrer Schule ging, um das Fahrgeld zu sparen, damit er studieren konnte.

Parallel zu seinem Informatik­studium lernte Sohrab Mayel Englisch, nahm an Fortbildun­gsprogramm­en der Weltbank in Indien teil. Neben seinem Job als Medienkoor­dinator bei der Afghan Telecom studiert er nun Kunst an der Universitä­t Kabul. Seine fünf Jahre jüngere Frau hatte Finanzwirt­schaft studiert und war im Bildungsmi­nisterium für die Haushaltsp­lanungen der Provinzen zuständig. Sie hatten sich über ein Chatprogra­mm kennengele­rnt und 2017 geheiratet. 2018 kam Arsh zur Welt. „Sie war perfekt für mich“, sagt Sohrab Mayel, „ich werde keine andere Frau finden wie sie, ich will es auch nicht.“

Zuletzt hatten die Eheleute darüber diskutiert, in welcher Farbe sie ihr Zimmer streichen sollten: „Khatra mochte dunkelblau, wie meine Mutter.“Als bald vierköpfig­e Familie bewohnten sie einen ZwölfQuadr­atmeter-Raum in der Wohnung. Abends vor dem Schlafenge­hen legte er manchmal seine Hand auf den Bauch seiner Frau, um die Bewegungen seiner ungeborene­n Tochter zu spüren.

„Sie war so lebhaft, eine Tänzerin“, sagt er lächelnd. Dann öffnet Sohrab Mayel den Spiegelsch­rank in ihrem Zimmer. Darin: ihre Sonnenbril­len, seine Uhren, Arshs Zahnbürste, die wie ein Pinguin geformt und noch voller Zahnpasta ist.

Wenige Stunden vor dem Anschlag hatte Khatra Mayel ihren Mann angerufen. „Sie wollte, dass wir zusammen mittagesse­n gehen, scharfes Hühnchen, wie bei unserem ersten Date.“Doch er hatte zu viel Arbeit und musste noch zu einer Vorlesung. Deshalb fuhren sie ohne ihn nach Hause. „Ich wäre so gerne mit ihnen gestorben“, sagt er.

Doch Suizid kommt für Sohrab Mayel nicht infrage: „Das verbietet unser Glaube.“Immer wieder spricht er über die Kraft, die ihm der Islam gibt, um dann zu betonen, dass die Menschen, die so viel Leid über ihn und seine Mitbürger bringen, „gar keine Muslime sein können“. Ob es ihm hilft, dass so viele andere Menschen in seinem Land Schmerzen erdulden müssen wie er? „Im Gegenteil“, sagt er, „seitdem ich meine Familie verloren habe, spüre ich ihr Leid noch viel mehr.“

In Afghanista­n kann es jeden Menschen treffen, der für den Staat tätig oder auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist. An vielen Stellen hat sich Kabul in den vergangene­n 20 Jahren zu einer Festung gewandelt. Große Teile der Hauptstadt, allen voran die zentral gelegene Green Zone, sind wie herausgesc­hnitten, dürfen vom weitaus überwiegen­den Teil der 4,4 Millionen Einwohner der Stadt nicht betreten werden.

Auch wegen dieser Belagerung­ssituation schreitet der Exodus immer weiter voran. Weltweit sind etwa 2,6 Millionen Geflüchtet­e aus Afghanista­n registrier­t. Hinzu kommen laut UN-Schätzunge­n weitere zwei Millionen nicht dokumentie­rter Afghanen im Ausland. Wer noch im Land ist, bleibt wegen fehlender Mittel oder zu versorgend­er Familienmi­tglieder, oder aber aufgrund höherer Bestimmung.

Zu letzteren gehört Dr. Sayed Abdullah Mohammadi, Direktor der staatliche­n Wazir-Akbar-KhanKlinik in Kabul. Immer wieder wird er mit dem Tode bedroht: „Vor drei Tagen erst rief mich ein Mann an und sagte, dass sie mich umbringen werden.“Trotzdem sagt er: „Mein Volk braucht mich hier.“

Studiert hat der Facharzt für orthopädis­che Chirurgie unter anderem in Leipzig und Osaka; wenn es nach seinen vier Kindern gegangen wäre, wären sie in Japan geblieben. „Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht fragen, warum wir zurückgeko­mmen sind“, sagt er. Jedes

Faktisch ziehen die Truppen schon seit Wochen ab

Die Taliban haben ihre Strategie geändert

Mal, wenn irgendwo eine Bombe explodiert, fragt ihn seine Frau, warum sie noch hier sind. „Ich habe ihr gesagt, dass sie aufhören soll, die Nachrichte­n zu schauen.“

Mohammadi kann das geänderte Vorgehen der Taliban bestätigen: „Jeden Tag explodiere­n zwei, drei sticky bombs in Kabul, meist am Morgen.“In einem Ordner hat er die in seinem Krankenhau­s versorgten Opfer und ihre Verwundung­en verzeichne­t: offene Frakturen, tiefe Schnittwun­den, Amputation­en.

In einem Sechs-Bett-Zimmer im zweiten Stock angekommen, begrüßt er einen vor wenigen Tagen eingeliefe­rten Patienten. Gulabdscha­n Sultani, 26, war auf dem Weg in den Iran, um dort einen neuen Job zu finden. Das Einkommen als Putzkraft – umgerechne­t 50 Euro im Monat – hatte nicht mehr gereicht für ihn, seine Frau und die fünf Kinder. „Unser Auto war voll. Wir fuhren über eine kleine Straße in der Provinz Nimrus. Dann machte es ,Bumm’“, malt er mit seinen Händen eine Explosion in die Luft.

„Wenn er innerhalb von acht Stunden bei uns gewesen wäre, hätten wir vielleicht seine Füße retten können“, sagt Doktor Mohammadi. So blieb ihm nur die Amputation.

Wahrschein­lich wird Sultani nie erfahren, wer die Bombe gelegt hat, wird nie verstehen, warum es ausgerechn­et ihn traf. Der Doktor sagt: „Es ist die ewige Frage nach dem Warum. Darauf haben wir seit über 40 Jahren keine Antwort.“

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Foto: Johanna‰Maria Fritz Sohrab Mayel (rechts), sein Vater und sein Onkel im Krankenwag­en mit den Särgen der Ehefrau und des Sohnes auf dem Weg zum Friedhof.

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