Politische Gewalt nimmt dramatisch zu
Der mutmaßliche Urheber der perfiden NSU-2.0-Drohmails ist gefasst. Doch wie kam ein vorbestrafter 53-Jähriger aus Berlin an sensible Behördendaten? Seehofer verkündet einen rasanten Anstieg einschlägiger Taten
Berlin Ist das Rätsel um die perfide Serie von Drohbriefen, die mit NSU 2.0 unterzeichnet waren, endlich gelöst? Nach der Festnahme eines dringend Tatverdächtigen scheinen die Behörden zumindest einen entscheidenden Schritt weiter. Der Fahndungserfolg kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl rechtsextremistischer Straftaten weiter zunimmt. Auch im Fall NSU 2.0 bleiben für die Politik noch zu viele Fragen offen.
Jahrelang hatten zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens die rechtsextremen digitalen Drohnachrichten erhalten, unterschrieben waren sie stets mit NSU 2.0. Der anonyme Verfasser bezeichnete sich damit als Nachfolger der Neonazi-Mörderbande NSU, die zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete.
Mehrere solcher Schreiben erhielt etwa die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die Angehörige der NSU-Opfer als Nebenklägerin vertreten hatte. „Wir schlachten deine Tochter“, stand in einem der Briefe. Namen und Wohnadresse des Kindes wurden genannt, obwohl diese Informationen nicht öffentlich zugänglich waren. Auch andere Nachrichten enthielten neben Todesdrohungen geschützte Daten. So richtete sich der Verdacht zeitweise sogar gegen die Polizei in Hessen, bei der an Dienstcomputern ominöse Abfragen erfolgt waren. Aus Hessen stammten auch mehrere Betroffene, etwa die heutige Linksparteichefin Janine Wissler. Doch jetzt nahmen die Ermittler in Berlin einen arbeitslosen Mann fest, der dringend verdächtigt wird, die Drohschreiben verfasst zu haben. Alexander M. ist für die Berliner Polizei alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Dutzende Verfahren wurden bereits gegen ihn geführt. Es ging unter anderem um gefährliche Körperverletzung, Betrug, Urkundenfälschung, Besitz von Kinderpornografie, Bedrohungen, Beleidigung und Verleumdung. Mehrere Delikte haben offenbar einen rechtsextremen Hintergrund. Als gelernter Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung kennt der 53-Jährige sich gut aus in den finsteren Ecken des weltweiten Datennetzes, dem sogenannten Darknet.
Als die Fahnder M. in seiner Wohnung im Berliner Problemstadtteil Wedding festnahmen, saß er gerade wieder am Rechner. Ein Team um einen Sonderermittler der hessischen Staatsanwaltschaft hatte in den vergangenen Monaten nichts unversucht gelassen, um den Urheber der Drohungen zu enttarnen. Dabei kamen angeblich auch Sprachwissenschaftler zum Einsatz. Sie stellten fest, dass Einträge M.s in rechtspopulistischen Foren in Satzbau und Ausdrucksweise eine große Ähnlichkeit zum Text der Drohschreiben erkennen ließen. Gegen M. wird nun wegen des Verdachts der Volksverhetzung, der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Bedrohung, Beleidigung und weiterer Tatbestände ermittelt.
Dafür, dass sensible Daten von Personen, die Drohbotschaften erhielten, zuvor von hessischen Polizeicomputern abgerufen worden waren, gibt es nun eine mögliche Erklärung. Es wird nicht ausgeschlossen, dass der Verdächtige einfach bei der hessischen Polizei angerufen und sich als Kollege ausgegeben hat, um an die Informationen zu gelangen. Noch ist nicht ausgeschlossen, dass M. bei der Beschaffung von Daten der Opfer Helfer hatte. Die Grünen fordern denn auch nach dem Fahndungserfolg weitere Ermittlungen über mögliche rechtsextremistische Netzwerke hinter den
Taten. „Ich warne davor, sich vorschnell auf eine Einzeltätertheorie festzulegen, mögliche Netzwerke dürfen nicht aus dem Blick geraten“, sagte der Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz unserer Redaktion. Auch die FDP sieht nach der Festnahme des Verdächtigen weiteren Aufklärungsbedarf. Innenexperte Benjamin Strasser sagte unserer Redaktion: „Die Frage bleibt offen, ob der Tatverdächtige Kontakt zu Polizeibeamten aufgenommen hat, um an Daten der Opfer aus Polizeicomputern zu kommen.“
Bundesinnenminister Horst Seehofer zeigte sich höchst erfreut über den Fahndungserfolg. Der CSU-Politiker sieht im Rechtsextremismus weiterhin „die größte Bedrohung“für die Sicherheit im Land. Am Dienstag stellte er in Berlin die Statistik der politisch motivierten Straftaten vor. Diese haben im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht. Seehofer nannte die Entwicklung beunruhigend, denn damit habe sich „ein Trend der vergangenen Jahre verfestigt“. Gerade die Gewaltkriminalität nehme zu, er stelle „Verrohungstendenzen“fest, sagte Seehofer. Aus dem Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) für 2020 geht hervor, dass die Zahl der politisch motivierten Straftaten gegenüber dem Vorjahr um gut 8,5 Prozent auf 44700 angestiegen ist. Demnach gingen mehr als die Hälfte der Fälle auf das Konto von rechten Tätern. Exakt 23604 rechts motivierte Straftaten wurden gezählt, so viele wie nie seit dem Beginn der Erfassung im Jahr 2001. „Beschämend“nannte Seehofer den Anstieg antisemitischer Delikte, die nahezu ausschließlich rechtsextrem motiviert seien.
Die Zahl der politisch motivierten Gewalttaten liegt mit 3365 im Jahr 2020 sogar um 19 Prozent höher als im Jahr davor. Auch linksextremistisch und islamistisch motivierte Kriminalität bietet laut Seehofer weiter großen Anlass zu Sorge und Wachsamkeit. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie registriert das BKA 2020 insgesamt 3559 politisch motivierte Straftaten, darunter Körperverletzung, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und Propagandadelikte. Seehofer warnte, dass die von der Meinungsfreiheit gedeckten Corona-Proteste zunehmend von Rechtsextremen, Reichsbürgern, Esoterikern und Verschwörungsideologen instrumentalisiert würden.
Bei der Festnahme saß der Verdächtige am Rechner
19 Prozent mehr Gewalttaten als noch im Jahr zuvor