Kümmern wir uns? Oder kümmert’s uns nicht?
Eine neue Schau im Staatlichen Textil- und Industriemuseum stellt Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und Solidarität. Aber auch danach, ob der Kitt, der uns zusammenhält, auch nach Corona und Hochwasser noch trägt
Ein großes Thema hat sich das Staatliche Textil- und Industriemuseum Augsburg, kurz tim genannt, für das nächste Halbjahr vorgenommen – und schon mal eine großartige Ausstellung vorgelegt. Bereits der Titel ist schön zweilagig und verspricht Tiefe im Konzept: „Who cares?“kann „Wer kümmert sich?“ heißen, aber auch „Wen kümmert’s?“, begleitet von Gleichgültigkeit und Schulterzucken.
Noch nie waren die 1000 Quadratmeter im ersten Stock des tim so dicht belegt. Gleich hinter der Glastür empfängt ein grellbunter Schilderwald im Stil des selbst gepinselten, kreativen Protestes der weltweiten Klimademos: Barmherzigkeit, Schutz, Humanität, Empathie, Selbstlosigkeit. Ein fast erschlagender Auftakt. Um all das geht’s in dieser Ausstellung, macht Museumsdirektor Karl Borromäus Murr klar und spart wie gewohnt nicht mit Gesellschaftskritik: „Im Neoliberalismus seit den 1980er Jahren ist
Solidarität als Prinzip unter die Räder gekommen.“Sie neu zu entdecken, zu diskutieren und neue Reservate für die Fürsorge zu schaffen sei das Ziel dieser Schau.
Glashäuser thematisieren die sechs Abteilungen Solidarität in den Bereichen Arbeit, Gesundheit, Flucht, Konsum, Klima und Kunst. Zwischen viel Text und Kopfarbeit geben die Glasinseln Zeit zum Durchatmen und Staunen. Ein Haus mit Adler-Nähmaschinen samt Spulen und Fäden, originale Mitgliedsbücher der „Reichsgesellschaft deutscher Kommunalbeamter und Angestellter“unter Glas, ein Gewächshaus mit Krankenhausbett, eine Installation mit 20 hängenden Retro-Weckern setzen ein Kopfkino in Gang, für das es nicht vieler Worte bedarf. Die Litfaßsäule mit historischen Plakaten ruft Erinnerungen an die großen 1.-Mai-Demos zur Arbeitersolidarität wach.
Überhaupt ist es wohl das, was wirkt: Erzählungen von gelebter Solidarität. Wie in dem Glashaus mit der historischen Sitzgruppe aus dem Augsburger Grand Hotel, einem von Aktivisten bundesweit bekannt gewordenen Inbegriff unerschütterlicher, mit und gegen Behörden durchgesetzter Solidarität für Geflüchtete. Viele in Augsburg gelandete Ex-Flüchtlinge gingen hier ihre ersten Schritte ins neue deutsche Leben. Wie der afghanische Musiker Farhat Sidiqqi. Er gründete das afghanische Drachenfest, von dem Objekte hinter Glas zu sehen sind. Eine Lokalgeschichte zur Flüchtlingshilfe hat das tim hier aufgespannt, beginnend mit dem Gögginger Kirchenasyl 1989, dem ersten in Bayern, über das Grand Hotel bis zu den Helferkreisen, die sich mit der Ankunft tausender Flüchtlinge im Jahr 2015 spontan in den Augsburger Stadtvierteln gründeten. Mit einer Lotterie lässt sich an dieser Station Einbürgerung spielerisch testen. 50 Fragen zu Bundespräsidenten, Mittelgebirgen und Geschichte stehen auf einem Glücksrad zur Auswahl.
Dietmar Süß vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Uni Augsburg, der an „Who cares?“beteiligt ist, fragt, was passiert, wenn traditionelle Organisatoren von Solidarität wie Kirchen und Arbeiterorganisationen schwinden: Verpufft dann auch die Solidarität? Eher nicht, vermutet er. „Das Engagement verlagert sich nur, zum Beispiel in Bewegungen zur Asylhilfe oder Klimarettung.“
Corona schaffte sich seine eigene Solidarität. Dass die eher aus der Angst geboren ist, illustriert ein Glashaus mit roten digitalen Laufanzeigen in der hintersten, dunkelsten Ecke der Ausstellungshalle. Unablässig, wie durchlaufende Börsenkurse, zeigen sie Daten zu CoronaInzidenzen und -Toten in Städten und Ländern.
Die Ausstellung bringt Generationen und Gerechtigkeitsfragen zuebenfalls sammen. Damit fügt sie sich ein in ein Museumsverständnis, das sich nicht nur das Sammeln und Aufbewahren, sondern auch die Kommunikation mit der Stadtbevölkerung und das Debattieren über Identität zur Aufgabe macht. Ein Stadtmuseum eigentlich, obwohl es ein Landesmuseum ist. Dafür spricht auch die Kooperation mit lokalen Künstlern wie Maximilian Prüfer und die
„Solidarität ist unter die Räder gekommen“
Die CoronaZahlen laufen wie Börsenkurse
Koppelung mit dem Augsburger Friedensfest. Das Künstlerkollektiv der Utopia Toolbox ist gleich ganz ins tim gezogen und hat sein Atelier in der Ausstellungshalle eingerichtet, um mit den Menschen auf Tuchfühlung zu gehen.
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Ausstellung „Who cares? Solidarität neu entdecken“läuft vom 23. Juli bis Anfang 2022 im Staatlichen Textil und Industriemuseum Augsburg (Provino straße 46). Geöffnet ist das Museum von Dienstag bis Sonntag von 9 bis 18 Uhr. Näheres zum umfangreichen Begleitpro gramm sowie zu Erwachsenen und Schulführungen auf der Website unter www.timbayern.de