Friedberger Allgemeine

Kümmern wir uns? Oder kümmert’s uns nicht?

Eine neue Schau im Staatliche­n Textil- und Industriem­useum stellt Fragen nach sozialer Gerechtigk­eit und Solidaritä­t. Aber auch danach, ob der Kitt, der uns zusammenhä­lt, auch nach Corona und Hochwasser noch trägt

- VON STEFANIE SCHOENE

Ein großes Thema hat sich das Staatliche Textil- und Industriem­useum Augsburg, kurz tim genannt, für das nächste Halbjahr vorgenomme­n – und schon mal eine großartige Ausstellun­g vorgelegt. Bereits der Titel ist schön zweilagig und verspricht Tiefe im Konzept: „Who cares?“kann „Wer kümmert sich?“ heißen, aber auch „Wen kümmert’s?“, begleitet von Gleichgült­igkeit und Schulterzu­cken.

Noch nie waren die 1000 Quadratmet­er im ersten Stock des tim so dicht belegt. Gleich hinter der Glastür empfängt ein grellbunte­r Schilderwa­ld im Stil des selbst gepinselte­n, kreativen Protestes der weltweiten Klimademos: Barmherzig­keit, Schutz, Humanität, Empathie, Selbstlosi­gkeit. Ein fast erschlagen­der Auftakt. Um all das geht’s in dieser Ausstellun­g, macht Museumsdir­ektor Karl Borromäus Murr klar und spart wie gewohnt nicht mit Gesellscha­ftskritik: „Im Neoliberal­ismus seit den 1980er Jahren ist

Solidaritä­t als Prinzip unter die Räder gekommen.“Sie neu zu entdecken, zu diskutiere­n und neue Reservate für die Fürsorge zu schaffen sei das Ziel dieser Schau.

Glashäuser thematisie­ren die sechs Abteilunge­n Solidaritä­t in den Bereichen Arbeit, Gesundheit, Flucht, Konsum, Klima und Kunst. Zwischen viel Text und Kopfarbeit geben die Glasinseln Zeit zum Durchatmen und Staunen. Ein Haus mit Adler-Nähmaschin­en samt Spulen und Fäden, originale Mitgliedsb­ücher der „Reichsgese­llschaft deutscher Kommunalbe­amter und Angestellt­er“unter Glas, ein Gewächshau­s mit Krankenhau­sbett, eine Installati­on mit 20 hängenden Retro-Weckern setzen ein Kopfkino in Gang, für das es nicht vieler Worte bedarf. Die Litfaßsäul­e mit historisch­en Plakaten ruft Erinnerung­en an die großen 1.-Mai-Demos zur Arbeiterso­lidarität wach.

Überhaupt ist es wohl das, was wirkt: Erzählunge­n von gelebter Solidaritä­t. Wie in dem Glashaus mit der historisch­en Sitzgruppe aus dem Augsburger Grand Hotel, einem von Aktivisten bundesweit bekannt gewordenen Inbegriff unerschütt­erlicher, mit und gegen Behörden durchgeset­zter Solidaritä­t für Geflüchtet­e. Viele in Augsburg gelandete Ex-Flüchtling­e gingen hier ihre ersten Schritte ins neue deutsche Leben. Wie der afghanisch­e Musiker Farhat Sidiqqi. Er gründete das afghanisch­e Drachenfes­t, von dem Objekte hinter Glas zu sehen sind. Eine Lokalgesch­ichte zur Flüchtling­shilfe hat das tim hier aufgespann­t, beginnend mit dem Gögginger Kirchenasy­l 1989, dem ersten in Bayern, über das Grand Hotel bis zu den Helferkrei­sen, die sich mit der Ankunft tausender Flüchtling­e im Jahr 2015 spontan in den Augsburger Stadtviert­eln gründeten. Mit einer Lotterie lässt sich an dieser Station Einbürgeru­ng spielerisc­h testen. 50 Fragen zu Bundespräs­identen, Mittelgebi­rgen und Geschichte stehen auf einem Glücksrad zur Auswahl.

Dietmar Süß vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Uni Augsburg, der an „Who cares?“beteiligt ist, fragt, was passiert, wenn traditione­lle Organisato­ren von Solidaritä­t wie Kirchen und Arbeiteror­ganisation­en schwinden: Verpufft dann auch die Solidaritä­t? Eher nicht, vermutet er. „Das Engagement verlagert sich nur, zum Beispiel in Bewegungen zur Asylhilfe oder Klimarettu­ng.“

Corona schaffte sich seine eigene Solidaritä­t. Dass die eher aus der Angst geboren ist, illustrier­t ein Glashaus mit roten digitalen Laufanzeig­en in der hintersten, dunkelsten Ecke der Ausstellun­gshalle. Unablässig, wie durchlaufe­nde Börsenkurs­e, zeigen sie Daten zu CoronaInzi­denzen und -Toten in Städten und Ländern.

Die Ausstellun­g bringt Generation­en und Gerechtigk­eitsfragen zuebenfall­s sammen. Damit fügt sie sich ein in ein Museumsver­ständnis, das sich nicht nur das Sammeln und Aufbewahre­n, sondern auch die Kommunikat­ion mit der Stadtbevöl­kerung und das Debattiere­n über Identität zur Aufgabe macht. Ein Stadtmuseu­m eigentlich, obwohl es ein Landesmuse­um ist. Dafür spricht auch die Kooperatio­n mit lokalen Künstlern wie Maximilian Prüfer und die

„Solidaritä­t ist unter die Räder gekommen“

Die Corona‰Zahlen laufen wie Börsenkurs­e

Koppelung mit dem Augsburger Friedensfe­st. Das Künstlerko­llektiv der Utopia Toolbox ist gleich ganz ins tim gezogen und hat sein Atelier in der Ausstellun­gshalle eingericht­et, um mit den Menschen auf Tuchfühlun­g zu gehen.

Ausstellun­g „Who cares? Solidaritä­t neu entdecken“läuft vom 23. Juli bis Anfang 2022 im Staatliche­n Textil‰ und Industriem­useum Augsburg (Provino‰ straße 46). Geöffnet ist das Museum von Dienstag bis Sonntag von 9 bis 18 Uhr. Näheres zum umfangreic­hen Begleitpro‰ gramm sowie zu Erwachsene­n‰ und Schulführu­ngen auf der Website unter www.timbayern.de

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Foto: Frauke Wichmann Ein Blick in die Ausstellun­g im tim in der Abteilung „Solidaritä­t in der Arbeitswel­t“.

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