Taliban in Kabul, Wirrwarr in Berlin
Wer ist schuld am Afghanistan-Debakel? In der Hauptstadt zeigt gerade jeder mit dem Finger auf andere, Verantwortung dagegen übernimmt keiner
Berlin Während sich am Airport von Kabul weiter dramatische Szenen abspielen, am Frankfurter Flughafen Maschinen mit aus der afghanischen Hauptstadt geretteten Menschen landen, streitet in Berlin die Politik um die Frage, wer für die Pannen bei der Evakuierung verantwortlich ist. Auf der Zielgeraden ihrer Regierungskoalition tauschen Union und SPD Vorwürfe aus, weisen eigene Verantwortung zurück – das Afghanistan-Debakel ist mitten im Wahlkampf gelandet.
Symptomatisch ist am Donnerstagnachmittag der Auftritt von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der CSU-Politiker betont nach einer Sitzung des Innenausschusses die moralische Verantwortung für die Aufnahme der afghanischen Ortskräfte und ihrer Familienangehörigen. Vorwürfe, dass sein Ministerium die Rettung der Helfer der Bundeswehr durch hohe Anforderungen bei der Visa-Vergabe blockiert habe, weist er zurück: „Für die Vergabe der Visa sind nicht wir zuständig.“Er wolle auf niemanden mit dem Finger zeigen. Doch klar ist: Der Vorwurf geht in Richtung des Auswärtigen Amtes und dessen Chef, Außenminister Heiko Maas von der SPD. Das Innenministerium müsse lediglich die Sicherheitsfreigabe erteilen. Die sei notwendig, betont Seehofer. Unzumutbare büHürden habe sein Ministerium nicht aufgebaut.
In Kabul sind am Donnerstagabend zwei weitere Evakuierungsflüge der Bundeswehr mit insgesamt über 380 Menschen gestartet. Damit wurden seit Montag zwar mehr als 1200 Personen geretttet. Viele Helferinnen und Helfer aber harren noch darauf, dass sie ausgeflogen werden. Das Zeitfenster wird immer kleiner, gut möglich, dass einige bald schutzlos den Taliban ausgeliefert sind. Seehofer will die Verantwortung nicht übernehmen. „Innenpolitisch war die Sache Mitte Juni geklärt.“Da habe festgestanden, dass man Ortskräfte zurückholen wolle. „Wir sind als Innenministerium für vieles zuständig. Wir sind aber nicht allzuständig.“
Die Schuldzuweisungen gehen hin und her in der Hauptstadt. Es geht darum, warum Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) die deutschen Rettungsflieger so spät losschickte. Warum Außenminister Heiko Maas (SPD) die Warnungen der eigenen Diplomaten vor den Islamisten offenbar in den Wind schlug. Warum die Geheimdienste, für die Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) zuständig ist, mit ihrer Einschätzung, dass zumindest vor dem 11. September nicht damit zu rechnen sei, dass die afghanische Hauptstadt fällt, derart falsch lagen. Für dieses Datum, den 20. Jahrestag der islamistischen Terroranschläge auf die
USA, hatten die Amerikaner ihren endgültigen Abzug angekündigt. Bekanntlich kam es anders. Nachdem die Amerikaner die sogenannte „Grüne Zone“räumten, ihre streng gesicherte Basis in Kabul, flüchtete der afghanische Präsident ins Ausland. Seine Truppen streckten die Waffen, Kabul und das ganze Land fielen fast kampflos an die Taliban.
Horcht man ein wenig in das Auswärtige Amt und das Innenministerium hinein, ergibt sich das Bild einer trotz rascher Geländegewinne der Taliban unverdrossen vor sich hin mahlenden Ministerialbürokratie. Beide Häuser tauschen Akten aus, Abteilungsleiter denken sich Lösungen aus, Staatssekretäre reden darüber. Das Auswärtige Amt wartet darauf, dass das Innenministerium erklärt, welche Afghanen einen Aufenthaltstitel bekommen. Erst wenn das geklärt ist, soll die Botschaft die Visa ausstellen und die in Gefahr Schwebenden ausgeflogen werden. Das Innenministerium besteht aber auf genauer Prüfung, wer da nach Deutschland kommen soll und denkt sich ein umständliches Verfahren aus. In dem von CSU und vorher von der CDU geführten Haus hat sich in den Köpfen festgesetzt, dass sich eine Flüchtlingskrise wie 2015 nicht noch einmal wiederrokratische holen soll. Außenminister Maas (SPD) bestand aber nicht auf einer Entscheidung von Innenminister Horst Seehofer (CSU), wer von den afghanischen Ortskräften Schutz in Deutschland erhalten soll. Und alle Entscheidungen – oder besser Nicht-Entscheidungen – fallen aufgrund von Aussagen des Bundesnachrichtendiensts. Der hatte zuletzt nur noch wenige Agenten in Afghanistan, die über kein Beziehungsnetz verfügten. Sie saßen in der Botschaft und waren dafür da, den Kontakt zu den Geheimdiensten der Amerikaner zu pflegen. Die Deutschen waren, gleich dem Militärischen, völlig von den USA abhängig. Obwohl am Ende in jeder Zeitung zu lesen war, dass die Islamisten bald Kabul einnehmen würde, reagierte Maas nicht.
Bekannt wurde am Donnerstag auch, dass das Verteidigungsministerium bereits Ende Juni zwei Charterflugzeuge bereitgestellt hatte, um rund 300 Ortskräfte – etwa Bundeswehr-Dolmetscher – auszufliegen. Doch ein Flug fand nicht statt. Das Verteidigungsministerium teilte mit, dass ein Charterflug nicht notwendig gewesen sei, weil die Menschen Ende Juni noch auf anderem Wege ausfliegen konnten. Das Innenministerium von Horst Seehofer bestreitet, von diesen geplanten Flügen überhaupt gewusst zu haben. Es geht hin und her. Entgegen aller Beteuerungen: Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen.
Schon im Juni scheiterte ein AusreiseCharterflug