Als es einen BabyBoom in der ReeseKaserne gab
Kurz bevor die Abrissbirne kommt, bringt die Geschichtsagentur eine unbekannte Episode der Augsburger Nachkriegsgeschichte ans Licht
Er ist nur 59 Sekunden lang und stumm: Ein verwackelter SchwarzWeiß-Clip, Untertitel: „Augsburg, Deutschland 1947“. Hunderte Menschen im Sonntagsstaat, die Männer schauen ernst, die Kamera fängt die Choreografie ihres bestimmten Ritualen folgenden Marsches ein. Auch Kreuze werden in der Prozession mitgeführt. Drei griechisch-katholische Geistliche in Ornat schwenken Weihrauch, schlagen das Kreuz, verbeugen sich. Es ist ein „Gedenken der ukrainischen Helden“, teilt der Vorspann mit. Der Clip zeigt das Gelände der früheren Reese-Kaserne. Deutlich zu erkennen sind die drei Blocks, die bis heute das Areal Richtung Sommestraße begrenzen. Er wurde im letzten Jahr anonym auf Youtube hochgeladen. Es handele sich um eines „der sehr seltenen Zeugnisse ukrainischer Flüchtlingscamps in Deutschland“, steht als Kommentar darunter.
Heute ist das Areal von Wildblumen überwuchert und eingezäunt. Seit letztem Jahr ist das frühere Reese-Theater abgerissen. Als einzige und letzte Mahnung aus Wehrmachtsund Kriegszeiten wird wohl nur das vormalige „Reichswehr-Offizierskasino“, das heutige Abraxas, die Konversion dieses einst riesigen Militärgeländes im Nordwesten Augsburgs überdauern.
Kurz bevor die drei letzten Somme-Kasernen ebenfalls der Abrissbirne zum Opfer fallen, recherchierte Reinhold Forster von der Geschichtsagentur noch ein bisher unbekanntes, ziviles Geheimnis. Sie dienten zwischen 1945 und 1949 als Sammellager für Tausende Flüchtlinge sowie ehemalige Zwangsarbeiterinnen und entlassene KZ-Häftlinge aus der Westukraine und bildeten hier eine Stadt in der Stadt, wie Reinhold Forster erklärt.
Gefördert vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“, sind seine Recherche-Ergebnisse jetzt als Outdoor-Ausstellung auf großen PVCBannern
zwischen den Pfosten des Zauns entlang der Sommestraße zu sehen.
Zuständig für das „ukrainische DP-Camp“(Displaced Persons) war die amerikanische Militärverwaltung.
Doch es verwaltete sich selbst, hatte eine Abteilung für Soziales, eine für Bildung, eine eigene Polizei und eine eigene Schule. Die Lagerverwaltung wurde gewählt, der Sportverein „Czornogora“trug auf dem Aufmarschplatz hinter den Unterkünften Fußballspiele aus, wie ein historisches Foto aus dessen Rechenschaftsberichten zeigt.
Bis zu 3500 Menschen fanden hier Unterkunft. Der Auslöser für Forsters Forschungen war ein plötzlicher Besuch aus Kanada. 2015 tauchte im nahen Abraxas Roman Korol auf. Der Mann erklärte dem Leiter Gerald Fiebig, er habe ab 1944 als Fünfjähriger hier in der Sommestraße in einem DP-Lager gelebt. Roman Korol berichtete von diesem ukrainischen Lager, in dem er seine Grundschulzeit verbrachte. Aus dem Gespräch wurde ein Interview, das seit 2019 auf Youtube veröffentlicht ist.
Korol brachte den Stein auch für Forster ins Rollen. „Geboren 1946“nennt Forster seine Ausstellung, die noch bis Mitte November entlang der Kasernenmauer zu sehen ist. Sie erinnert vor allem an den Babyboom. „Allein 1946 gab es 74 Geburten im Lager“, erläutert Forster. Für die exemplarisch vorgestellten 13 Familien, darunter auch die Familie Korol, zog er neben den Archiven der internationalen Flüchtlingswerke die Arolsen-Archive zu Rate, ein internationaler Suchdienst für Opfer und Überlebende des Nationalsozialismus.
Die meisten Familien sahen Augsburg als Zwischenstopp. Etwa zwei Drittel konnten bis 1949 ausreisen, vor allem nach Kanada, USA, Australien und Lateinamerika. Die Ukraine stand dagegen nicht auf der Liste der Wunschziele. Viele Ukrainer, wie etwa beim Ritual in dem kurzen Stummfilm, waren ukrainische Patrioten. In der Sowjetunion befürchteten sie Verfolgung und Assimilierung. Den deutschen Überfall 1941 bewertete diese Bewegung nicht als Besatzung, sondern als Befreiung vom „Bolschewismus“.