Warum sind gerade alle so gereizt?
Viele Menschen klagen über gereizte Stimmung. Sabrina Penn vom Familienstützpunkt Friedberg erklärt im Interview, warum die lange Pandemie uns überfordert und wie wir dieser Spirale entkommen
Corona stellt nicht nur das öffentliche Leben vor Herausforderungen, sondern auch die persönliche Laune.
Frau Penn, egal ob Bedienungen in Lokalen, Mitarbeiter von Behörden oder Verkäuferinnen im Supermarkt: Viele Menschen klagen gerade über einen aggressiven Grundton oder werden regelrecht beschimpft. Können Sie als Sozialpädagogin erklären, woran das liegt?
Sabrina Penn: Dieses grantige Auftreten und die Unfreundlichkeit, die uns gerade im Alltag nicht nur gefühlt häufiger begegnen als vor Corona, sind ein Symptom von Überforderung. Multiple Belastungen über einen längeren Zeitraum hinweg mit dem Eindruck, sich in einer machtlosen Situation zu befinden, in der man selber nicht mehr aktiv eingreifen kann, können rasch zu größerer Unzufriedenheit und im Ausdruck zur Gereiztheit führen. Welche sensiblen Lebensbereiche wurden durch die Pandemie und ihre Folgen so getroffen, dass es die Menschen frustriert oder gar ängstigt?
Penn: Nahezu alle Menschen, egal in welcher Lebenssituation sie sich gerade befanden, wurden mit Veränderungen im direkten Lebensalltag konfrontiert. Viele Menschen hatten existenzielle Sorgen, waren in Kurzarbeit oder mussten wegen der Kinderbetreuung in Teilzeit. Arbeitsstellen waren bedroht, vor allem im 450-Euro-Sektor und bei Kleinselbstständigen. Hier geraten Familien ganz schnell in eine Negativspirale: Wenn Einkommen sinkt, fragt man sich schnell, ist die Miete noch zahlbar beziehungsweise sind Kredite noch stemmbar, kann ich Vereinsbeiträge, den Musikunterricht zahlen oder noch den nächsten Urlaub finanzieren? Es geht hier ja auch um Zukunftspläne, sei es ein Umzug, ob in Miete oder Hauskauf, ein Auto, eine Fortbildung et cetera. Hierbei mussten teilweise Verträge neu überdacht und rückgängig gemacht werden. Ist die Berufstätigkeit in Gefahr? Hat der jetzige Beruf noch Perspektive? Muss eine Umschulung stattfinden? Berufsfelder in Kunst, Kultur und Gastronomie hatten es besonders schwer. Auf der anderen Seite erlebten die Menschen in systemrelevanten Berufen eine enorme psychische und physische Belastung und hatten gleichzeitig die private Veränderung mit Homeschooling und Sorge um Verwandte zu bewältigen. Also waren mehrere existenzielle Lebensbereiche (Gesundheit, finanzielle Absicherung und Wohnen), welche für Sicherheit und Verlässlichkeit sorgen, Veränderungen und großen Unsicherheiten ausgesetzt.
Besonders unter Druck standen in dieser Phase Familien.
Penn: Familien mussten sich plötzlich mit einer deutlich veränderten Balance von Familie und Erwerbstätigkeit auseinandersetzen. Erwerbstätigen Eltern blieb angesichts der Schul- und Kitaschließungen oft nichts anderes übrig, als ins Homeoffice zu gehen, Urlaub zu nehmen oder Überstunden abzubauen. Homeschooling plus Homeoffice heißt zum Beispiel häufig bei Grundschulkindern, dass zwei Berufe gleichzeitig ausgeführt werden mussten. Die eigene Berufstätigkeit plus Lehrer/-in in unterschiedlichen Altersstufen. Wer dem nicht gewachsen war – und wer ist das schon – fühlte schnell Frustration und Überforderung. Das alles stets in den eigenen vier Wänden mit mehreren Kindern und ungeachtet technischer und räumlicher Hürden oder digitaler Ausstattung. Familien hatten einen komplett neuen Alltag zu bewältigen, bei dem es galt, ohne Unterstützung über einen sehr langen Zeitraum miteinander auch auf engstem Raum zurechtzukommen.
Bewegung, Sport, soziale Kontakte für Stressabbau, Freude und Leichtigkeit konnten nur sehr eingeschränkt und unter Auflagen stattfinden. Gleichzeitig hatten viele Eltern Sorge um die physische und psychische Gesundheit ihrer Eltern. Bei vielem spreche ich überwiegend von den privilegierten Familien, welche nun zusätzlich zu den Menschen, die bisher schon aus unterschiedlichen Gründen eine negative Grundstimmung hatten, ihre Frustration durch Gereiztheit in der Gesellschaft kundtun. Alleinerziehende, Menschen mit besonderen Herausforderungen oder Leute, die in Unterkünften leben und Schwierigkeiten mit der Sprache haben, ereilt es mehrfach schwer in diesen Zeiten. Sie benötigen weitreichendere Unterstützung und Aufmerksamkeit. Vorschriften und Schutzmaßnahmen wurden immer wieder geändert. Was macht das mit den Menschen?
Penn: Wir Menschen brauchen ein Mindestmaß an Sicherheit und Struktur im Alltag. Aber nun kamen zu den gesundheitlichen Gefahren von Corona die weiteren Auswirkungen, auf die man keinen Einfluss mehr hat, hinzu. Die Maskenfrage – wann, wo, welche Maske, Testen – wer, wann, wo? Kontaktbeschränkungen, Impfen … Meldungen über Grenzen von Inzidenzwerten und ihre Auswirkung, nun der neue Begriff Hospitalisierungsinzidenz. Die Menschen sind stets gefordert, sich zu informieren, und manchmal überfordert mit dieser Aufgabe. Im Zeitalter der digitalen Medien Wichtiges und Richtiges auszuwählen, war vorher schon ein Thema und begleitet auch diese Zeit explizit. Wenn sich stetig die Struktur verändert und der Alltag neu gelebt werden muss, kann es zu Rückzug, Gleichgültigkeit oder Rebellion führen. Die Herausforderung, „mit und in der Pandemie leben,“bringt auch Menschen an ihre Grenzen, die sonst über eine gute Resilienz verfügen. Wie kommen wir aus dieser Spirale heraus?
Penn: Eine Spirale im Bereich der Gefühle würde verkürzt bedeuten, dass Gereiztheit zu Wut führt und Wut zur Gewalt. Deshalb aufmerksam sein und den Anfängen wehren! Der erste Schritt könnte sein, wahrzunehmen, dass das Gefühl keine Tageslaune ist, sondern eine Grundstimmung. Dann kann man überlegen: Was stresst mich am meisten, und wo kann ich Stress rausnehmen? Was bereitet mir Freude und läuft gut – davon mehr! Mit wem kann ich mich darüber austauschen? Bewegung, um Dampf abzulassen und zu überlegen, wie ich für mich selber sorgen kann. Was ist wichtig für mein Leben und was kann ich weglassen? Das kann auch nur bedeuten, mal spazieren zu gehen, gesund zu kochen, mit echten Freunden darüber sprechen. Denn ist die Laune etwas gehoben, ist es eher wieder möglich, sich den Alltag genauer anzusehen und Veränderungen einzuleiten. So etwas kann dann bedeuten, wieder kleine Strukturen/Routinen im Alltag einzuführen. Ein Beispiel wäre, dass die ganze Familie wieder regelmäßiger gemeinsam isst und sich unterhält, Anteil nimmt am Alltag der anderen durch Fragen und Interesse. Kann man sich da gegenseitig unterstützen?
Penn: Ja, es ist wichtig, dass diejenigen, welche sich trotz allem in einer guten Situation befinden und noch gut in ihrer Kraft stehen, die anderen unterstützen, Kontakt halten, Sorgen ernst nehmen. Wir sollten aufeinander achten, uns gegenseitig entlasten. Manche sprechen davon, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Pandemien werden könnte. Da ist es vielleicht nicht die Zeit, große egoistische Pläne zu schmieden, sondern zu schätzen, was man hat, und und sich solidarisch zeigen.
»Diese Woche