Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (33)
Novelle von C. F. Meyer
England im Hochmittelalter: Unverzichtbare rechte Hand für König Heinrich II. ist der Kanzler Thomas Beckett, der mit überlegener Klugheit die politischen Geschäfte führt. Als der sinnenfrohe König jedoch durch einen Zufall die ihm bisher verborgen gebliebene Tochter Becketts entdeckt und sie verführt, nimmt das Unheil seinen Lauf …
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Er wand sich vor Lachen und ließ dabei das Büchlein auf den Boden fallen. Ich hob es ihm auf und erblickte darin eine seltsame Pflanze. Aus einem mageren Halme, dessen herabhängende Blätter die Ärmel einer Kutte bildeten, wuchs am schwanken Stielchen eines dünnen Halses als Ähre ein mir wohlbekanntes Marterangesicht. Es war die Heuchelgestalt eines Eremiten und der Primas, wie er leibte und lebte.
So schnell wird am Hofe ein Gefürchteter
zu einem Verlachten. Das Büchlein machte noch die Runde, da vernahm man aus der Ferne einen wunderlichen Klang. Es war eine fromme, einfältige Litanei, die sich dem Burghofe langsam näherte, von tausend und aber tausend inbrünstigen Stimmen halb kriegerisch, halb klagsam gesungen.
,Der Primas und seine Bettler!‘ ertönte es im Saal, und die Herren eilten an die Fenster. Auch ich fand meine Spalte und sah, wie Herr Rollo von der zunächst ragenden Zinne die gepanzerte Rechte gebieterisch ausstreckte.
,Die Zugbrücke auf! Zu die Torflügel!‘ schrie er in den Burghof hinunter, wo normännische Waffenknechte das Tor hüteten. Aber der friedliche Heerhaufe: Mönche, Bettler, Kinder, jegliches Volk geringer Art, drückte und drang wie eine Herde unaufhaltsam herein. Die Kriegsknechte konnten Herrn Rollo nicht mehr gehorchen, sie waren unwillkürlich zurückgewichen, denn Herr Thomas hatte sie mit ausgebreiteten Armen gesegnet. Er schritt hinter einem hochgetragenen Kreuze an der Spitze seines armen Zuges.
Er, den ich nie anders hatte zu Hofe kommen sehen als im kostbarsten Aufzuge und mit dem edelsten Geleite, trug ein grobes, härenes Gewand, und die Zehen seines nackten, auf Sandalen wandelnden Fußes glänzten unter der dunkeln Wolle hervor wie ein Stück Elfenbein.
Ehrerbietig und scheu empfing ihn die königliche Dienerschaft, um ihn in die Burg zu geleiten. Noch einmal wandte er sich auf der Schwelle gegen die Seinigen und gebot ihnen, geduldig seiner Rückkehr zu harren.
Sie gehorchten und lagerten sich demütig auf den Boden, die steinernen Bänke des Hofes und die Stufen der Marmortreppe frei lassend. Mein Blick fiel auf den Sachsen, der dem Primas das Kreuz vorgetragen hatte. Er war in der Mitte des Haufens stehengeblieben und hielt das ihm anvertraute Zeichen noch immer hoch. Ein roter Bart deckte zum großen Teil das lehmfarbene Gesicht; dennoch schien mir, ich sollte diese groben Züge kennen. Wahrhaftig, es war Trustan Grimm, der Verlobte meiner Hilde, der Tochter des Bogners in London. Ich freute mich, ihn als Mönch zu finden, und mutmaßte, daß ihn Hilde trotz ihrer Erniedrigung und dem Willen ihres Vaters verschmäht habe, wie es sich auch verhielt, ich aber erst in späteren Tagen mit Gewißheit erfuhr.
Inzwischen hatte Herr Thomas die inneren Treppen erstiegen und gerade, da ich mich wieder vom Fenster zurückwandte, trat er in die Halle. Das Ziel aller Blicke, schritt er leise bis in die Mitte des Gemaches. Hier erhob er langsam den Blick auf die Versammlung und mit einer väterlichen Gebärde die segnende Rechte. Ein unmutiges Gemurmel lief durch die Reihen, aus dem das Scheltwort des Waffenmeisters hervorbrach:
,Behalt ihn für dich, Pfaff, deinen schäbigen Segen; wir begehren ihn nicht!‘
Herr Thomas bewegte sich schweigend gegen das offene Fenster und breitete, von den Normannen verschmäht, seine barmherzige Rechte über das Volk der Sachsen aus.
Da stieg aus der Tiefe des Hofes ein lautes Getöne auf, gemischt aus Geschrei des Weinens und der Freude, so daß man den Jubel vom Jammer nicht unterscheiden und trennen konnte; denn es war, seit die Sachsen ihre heimischen Könige verloren hatten, seit hundert Jahren das erste Mal, daß aus einem königlichen Fenster Gruß und Segen auf sie herabfloß.
Die Normannen aber ballten die Fäuste oder legten sie an den Knauf ihrer Schwerter.
Der Primas wandte sich, ohne jemandes zu achten, gegen die wohlbekannte Türe des Königs, gerade da ein Kämmerer von innen sie öffnete und Herr Heinrich in guter Morgenlaune in den Saal trat. Ehrerbietig stand Herr Thomas
vor ihm und harrte seiner Anrede mit gesenktem Haupte und in unterwürfiger Haltung.
Herr Heinrich betrachtete seinen Kanzler eine Weile aufmerksam und zweifelnd, nicht anders – haltet mir’s zugute – als man einen langjährigen Liebling – Roß oder Bracken – beschaut, der durch Schur oder Stutzen des Schweifes seine Gestalt verwunderlich geändert hat. Überraschung und Gelächter stunden auf seinem Gesicht; doch gedachte er seiner königlichen Würde und Weisheit und entließ zuerst die Hofleute mit einer leutseligen Handbewegung.
,Wir danken euch, Herrschaften‘, sagte er, ,für eure Begrüßung, Dienstwilligkeit und Liebe. Freude und Fröhlichkeit des Wiedersehens versparen Wir auf Unsere festliche Tafel, zu der Wir euch alle einladen, wie es Unsrer Gnade und euerm Werte ziemt. Doch vorerst die Geschäfte mit Unserm Kanzler. Wollet inzwischen einen Gang in Unsre neuen Gärten tun.